Alles zur Berlinale 2014: Das geht ab!
Auf der Pressekonferenz zur Berlinale wird ein echtes "Festival des durchgeknallten Films" versprochen: Statt den aserbaidschanischen Hirtenfilm gibt es die neuseeländische Vampir-WG-Doku. Ein Blick auf die Beiträge aus Forum, Panorama, Generationen, Retrospektive und Berlinale Special.
Ein bisschen ging die unkonventionelle Idee denn doch nach hinten los. Weil die Journalisten in den vergangenen Jahren nach ausführlichen Darbietungen der zahlreichen Berlinale-Sektionschefs plus Zampano Dieter Kosslick meist ermattet gänzlich aufs berufstypische Fragestellen verzichteten, lud Moderator und Programm-Manager Thomas Hailer diesmal bei der Auftakt-Pressekonferenz keck gleich am Anfang zu Fragen ein. Und, siehe da: Gefragt wurde keck! Nach der fünften Wortmeldung aber, die Dieter Kosslick noch geduldig beantwortet hatte – Doris Dörries neuer Film sei schlicht deshalb nicht dabei, weil er gar nicht eingereicht worden sei –, wurde Hailer grundsätzlich: „Wir sprechen hier über Filme, die wir auswählen, nicht über die, die wir nicht nehmen. Das hat mit Kuratieren zu tun.“
Andererseits: Dass Journalisten manchmal nicht nur nach dem fragen, was Gastgeber unbedingt beantworten wollen, hat mit Pressekonferenzen zu tun – und insofern darf das Experiment, zumal anschließend bei der Programmpräsentation munter weitergefragt wurde, als gelungen betrachtet werden. Substanziell Neues gab es zwar nicht nach der Flut an Festival-Pressemitteilungen seit Dezember, wohl aber manch zumindest terminologisch Erhellendes.
Was "zu intelligent für das amerikanische Publikum" ist, passt prima auf die Berlinale
So fand etwa Linda Söffker, verantwortlich für die Perspektive Deutsches Kino, den der FDJ entlehnten internen Slogan ihrer Reihe – „MMM, Messe der Meister von morgen“ – aufs Schönste bestätigt. Schließlich seien Perspektive-Entdeckungen diesmal im Panorama und sogar, mit Dietrich Brüggemann, im Wettbewerb vertreten. Forums-Chef Christoph Terhechte verblüffte mit dem charmanten Bekenntnis, mal ein echtes „Festival des durchgeknallten Films“ kuratieren zu wollen, und diagnostizierte: „Da ist das Forum diesmal ziemlich nah dran.“
Belege dafür fand er etwa in einem Film mit Michel Houellebecq und in Harvey Weinsteins Befund, der vom Forum ausgewählte koreanische Science-Fiction-Film „Snowpiercer“ sei „zu intelligent für das amerikanische Publikum“. Hübsch auch Kosslicks Staunen über die gleichmütige Reaktion der knapp 500 Anwesenden auf seinen Hinweis, dass nicht nur der allgefragte George Clooney zu den in Berlin erwarteten Stars gehöre, sondern auch Bradley Cooper: „Okay, hier ist fast niemand unter 20 da, aber das geht ab!“
Was auch, zumindest regiestarmäßig, heftig abgeht, war die breaking last news der Pressekonferenz: Martin Scorsese kommt! Am 14. Februar präsentiert er seine – noch nicht ganz fertige – Doku über die „New York Review of Books“. Welcome, Wolf!
Heimat, deine Ferne: Die Sektion PANORAMA
Vorweg: Der „aserbaidschanische Hirtenfilm“, den das Stadtmagazin „zitty“ soeben als Objekt der Entdeckerbegierde der Berlinale-Nebenreihenmacher beschwor, ist diesmal nicht dabei. Auch nicht der mongolische Jurten- oder der kasachische Schalmeienfilm, immer wieder gern angeführt, wenn es gilt, für ein paar Festival-Fastentage im Jahr auf den Konsum des amerikanischen Honkfilmwesens zu verzichten. Aber was macht das, wenn das Panorama 50 andere Werke zeigt, mit 36 Spielfilmen aus 29 Ländern – darunter so exotischen wie Vietnam oder Birma alias Myanmar?
Erst einmal aber sind die Filmemacher vor der Haustür dran. Und da geht es so vieseitig munter los wie im Wettbewerb, in dem gleich vier Deutsche vertreten sind. Maximilian Erlenwein lässt in dem Gangster-von-nebenan-Movie Stereo das oberlässige Star-Duo Jürgen Vogel und Moritz Bleibtrei aufeinandertreffen – der eine ein offenbar braver Motorradschlosser mit Familienanschluss, der andere ein mysteriöser Zyniker, der die Idylle empfindlich stört. Klar komödiantisch geht es in Benjamin Heisenbergs Über-Ich und Du zu: der aus Ulrich Seidls Filmen gefürchtete Georg Friedrich spielt einen Gelegenheitsgauner, der sich das Vertrauen eines reichen und uralten Philosophen erschleicht, um ihn alsbald um seine bibliophilen Schätze zu erleichtern. Ernster geht es bei Elfi Mikesch zu: Fieber, ihr Film mit Eva Mattes und Martin Wuttke, erzählt von einer Frau, die anhand alter Fotos der Fremdenlegionärsvergangenheit ihres so strengen wie labilen Vaters auf die Spur kommt. Große Erwartungen richten sich auch auf eine so kulturell individuelle wie deutschlandpolitische Erinnerungsarbeit: Annekatrin Hendel dokumentiert in Anderson die schillernde Rolle, die der Dichter und Stasi-Zuträger Sascha Anderson in der Ost-Berliner Literaturszene der achtziger Jahre spielte. Seine Opfer und Wegbegleiter kommen zu Wort, ebenso Anderson selber.
Das Berlinale Panorama spannt den Blick nach Asien auf
Thematisch bekömmlicher verspricht Jalil Lesperts Biopic Yves Saint Laurent zu werden, mit Pierre Niney in der Rolle des Modezaren. Mit diesem Film eröffnet das Panorama seine Special-Reihe und kehrt zugleich in eines seiner Stammhäuser, den wiedereröffneten Zoo Palast, zurück. Ebenfalls aus Frankreich kommt Michel Gondrys Is the Man Who is Tall Happy?, ein Essayfilm über seine Begegnung mit dem US-Sprachwissenschaftler Noam Chomsky. Griechenland, zuletzt im Weltkino mit starken, spröden Werken aufgefallen, ist mit Standing Aside, Watching von Yorgos Servetas vertreten: Eine Frau kehrt in ihr Heimatdorf zurück und findet die Bewohner in einem Geflecht von Gewalt und seelischer Verwahrlosung vor. Auch in Land of Storms des Ungarn Adam Császi geht es um einen Rückkehrer: Abgestoßen vom homophoben Klima seines deutschen Vereins, findet der junge Fußballspieler Szabolcs in der Heimat noch reaktionärere Strukturen vor. Und in John Michael McDonaghs Calvary hat ein irischer Priester (Brendan Gleeson) mit seiner ziemlich gotteslästerlich lebenden Gemeinde und noch dazu mit einer absurden Morddrohung zu kämpfen.
So eng kann es in den kleinen Ländern Europas zugehen – und wie weit in der weiten Welt? Die USA sind mit den Debüts zweier Terrence-Malick-Schüler dabei: A.J. Edwards erzählt, frei essayistisch, in The Better Angels von der Jugend Abraham Lincolns, und Saar Klein entwirft in Things People Do ein düsteres Ausgegrenzten-Panorama, das als Metapher für die Krise Amerikas verstanden sein mag: Job weg, Haus – fast – weg, und fertig ist der Abstieg in die Kriminellen-Karriere.
Wer in den wohl wieder eisigen Februartagen des Festivals Sonne sucht, ist – zumindest meteorologisch – in den zahlreichen fernsüdöstlichen Filmen gut aufgehoben, von den Philippinen bis Taiwan. Aus Vietnam kommt Nuoc: Im Jahr 2030 ist der Meeresspiegel extrem gestiegen, und die Kamera beobachtet das seltsame Leben eines jungen Paars, das ein auf Stelzen gebautes Haus bewohnt. Ein aufregendes Exotikum – vielleicht der Start in die Legende vom vietnamesischen ScienceFiction-Film, der es mit dem aserbaidschanischen Na-Sie-wissen-schon locker aufnehmen kann.
Bleibt Myanmar. Bing Du heißt der Film von Midi Z., der idyllisch ländlich und wunderbar besonnt beginnt. Aber sein englischer Titel „Ice Poison“ weist auf Böses, und so kommt es dann auch. Das ferne Land Birma, eben noch eine weltabgewandte Diktatur, hat globalisierungstechnisch aufgeschlossen. Und das Kino tut es ihm nach.
Und raus bist du: Das läuft im FORUM
Michel Houellebecq spielt sich selbst. Wird von drei muskelbepackten Kerlen, die sich ebenfalls selbst spielen, in ein schäbiges Häuschen im Pariser Umland entführt, diskutiert mit ihnen über Literatur, eine sehr nette Runde. Houellebecq ist bloß sauer, dass er gegen die Langeweile nur ein einziges Buch bekommt: Denis Diderots „Nonne“. Guillaume Nicloux war 2013 im Wettbewerb mit einer Neuverfilmung der „Nonne“ vertreten, seine Cinéma-Direct-Farce L’enlèvement de Michel Houellebecq wird bestimmt ein heiteres Highlight des Forums. Schon wie der Schriftsteller Kette raucht und ständig vergeblich nach einem eigenen Feuerzeug verlangt!
Zum skurrilen Höhepunkt taugt auch Souvenir. André Siebers hat tausende Stunden Filmmaterial eines Ex-Mitarbeiters der Friedrich-Ebert-Stiftung gesichtet, der sich und seine Arbeit manisch mit der Kamera begleitete. Etliche der 36 ForumsFilme gestatten einen Einblick in Arbeitswelten. Ein Autofriedhof in Frankreich (Casse). Machtspiele im japanischen Büro (Forma). Mobbing in Korea (Ship Bun). Die ungewöhnlichen Praktiken einer US-Sextherapeutin (She’s Lost Control), dazu Julia Hummer als Edelprostituierte (Top Girl). In At Home wird eine georgische Haushälterin, die jahrelang mit ihrer reichen griechischen Herrschaft zusammenlebte, krankheitshalber von der Familie auf die Straße gesetzt. Griechenland privat: Die Krise bringt die Klassengesellschaft zurück. Den Arbeitsplatz Kulturszene erforscht Max Linz im turbulenten BerlinFilm Ich will mich nicht künstlich aufregen mit gebotenem Unernst, wenn er eine Video-Kuratorin bei ihrem tolldreisten Kampf für ihr Projekt begleitet. Viele Szenen entstanden in der Akademie der Künste. Und die Doku Das große Museum analysiert, wie selbst das altehrwürdige Kunsthistorische Museum in Wien zunehmend auf Profitmaximierung setzt.
In Und in der Mitte da sind wir begleitet Sebastian Brameshuber ein Jahr lang vier Teenager aus Ebensee. Das „Nazidorf“ in Österreich hatte Schlagzeilen gemacht, als Rechtsradikale 2009 eine KZ-Gedenkfeier störten. Aus Deutschland kommt Töchter mit Kathleen Morgeneyer und Corinna Kirchhoff: Maria Speth setzt nach „Madonnen“ ihre Mutter-Tochter-Studien fort. Was das Forum als Heimstatt der Berliner Schule betrifft, kann man also erneut die Erzählweisen der jüngeren Regisseure dieser Schule, die keine sein will, in Augenschein nehmen.
Der Fokus im Forum Specials: Holocaust, Arabischer Frühling und Musikfilme ohne Musik
Stark vertreten auf dem 44. Forum ist Osteuropa, mit Werken meist junger Regisseure. In Chilla erzählt die Usbekin Saodat Ismailova, wie eine Frau das traditionelle Schweigegelübde ablegt. Die Kasachin Zhanna Issabayeva porträtiert mit Nagima eine junge Küchenhilfe, deren Lage immer prekärer wird. Issabayeva ist die einzige Filmemacherin ihres Landes! Und für Sportsfreunde: Der Rumäne Corneliu Porumboiu schaut sich in The Second Game mit seinem Vater auf einer alten VHS-Kassette ein Spiel aus der Zeit des Ceausescu-Regimes an – der Vater war damals Schiedsrichter. Wer sagt’s denn: Fußball ist Politik.
Auch die FORUM SPECIALS bieten ein ausgreifendes Spektrum, vom Holocaust (Memory of the Camps) über zwei ägyptische Dokumentationen zur Arabellion (The Square, Scent of a Revolution) bis zum Musikfilm ohne Musik über die Band Ja Panik (DMD KIU LIDT). In guter alter Tradition ist einem japanischen Altmeister wieder eine Mini-Retro gewidmet: mit drei restaurierten Filmen von Nakamura Noboru aus den 50er und 60er Jahren.
52 Arbeiten aus 20 Ländern versammelt das 9. FORUM EXPANDED im Arsenal, in der Berlinischen Galerie und in St. Agnes, der zur Galerie umgebauten Kirche in Kreuzberg (Ausstellung ab 5.2.). Dort läuft Clemens von Wedemeyers Afterimage, in dem eine Kamera durch das Requisitenlager von Cinecittà streift. In Lily’s Laptop verfolgt Judith Hopf, wie ein neo-bourgeoises Familiendomizil geflutet wird. Omer Fasts Everything That Rises Must Converge zeigt den Alltag von Pornodarstellern im Splitscreen (Cinestar Imax). Bruce LaBruce präsentiert seine Version von Schönbergs Pierrot Lunaire im Delphi. What Do We Know When We Know Where Something Is?: Ein zweitägiger Kongress verhandelt die Frage, wo Videokunst hingehört: ins Kino, ins Museum, in Galerien?
Glanz am Rand: Die Weltpremieren der SPECIALS
Der Friedrichstadt-Palast, das International, das Haus der Berliner Festspiele und – Tusch! – der wiedereröffnete Zoo Palast sind die Schauplätze der 18 Filme umfassenden Special-Reihe. Neun davon sind Weltpremieren, manche nur knapp vor Kinostart: Dazu gehören etwa Andreas Prochaskas Thriller Das finstere Tal, in dem ein Neuankömmling die xenophobe Abschottung österreichischer Alpendörfler durcheinanderbringt, und der Oscar-Favorit American Hustle (beide Filme laufen ab 13. Februar im Kino). Volker Schlöndorffs Diplomatie dagegen, der davon erzählt, wie das besetzte Paris Ende August 1944 vor Hitlers Vernichtungsbefehl gerettet wurde, wird erst zum 70. Jahrestag des Ereignisses im Kino zu sehen sein. Schlöndorff ist zudem mit der Wiederaufführung seines Fernsehfilms Baal von 1969 vertreten, die Hauptrolle des jung-wilden Brecht-Helden spielte Rainer Werner Fassbinder.
Zu den weiteren Höhepunkten dürfte die Weltpremiere von A Long Way Down (mit Pierce Brosnan und Toni Collette) nach dem Roman von Nick Hornby gehören – vier Lebensmüde begegnen sich auf einem Hochhausdach und beschließen, ihren Selbstmord bis zum Valentinstag zu verschieben. Literaturstoffe bieten ebenfalls der Thriller The Two Faces of January (nach Patricia Highsmith, mit Viggo Mortensen und Kirsten Dunst) sowie Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Grundlage der turbulenten Kriminalkomödie ist der Weltbestseller des schwedischen Journalisten Jonas Jonasson.
Ken Loach erhält den Goldenen Ehrenbären
Sozial präzis, politisch engagiert, humorvoll und zutiefst human – diese Qualitäten vereinen die Filme von Ken Loach, der mit einem Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird. Angefangen hat der Sohn eines Fabrikarbeiters in den sechziger und siebziger Jahren mit BBC-Fernsehfilmen, als Spielfilmregisseur endgültig berühmt wurde er in den Neunzigern. Zu seinen bekanntesten Filmen gehören „Ladybird, Ladybird“, „My Name is Joe“, „Sweet Sixteen“ und „Looking for Eric“, die im Rahmen einer zehn Titel umfassenden Hommage gezeigt werden. Zur (Wieder-)Entdeckung laden ein: das legendäre TV-Dokudrama über eine Obdachlosenfamilie, Cathy Come Home (1966), und der frühe Spielfilm Kes (1969). Die Ehrung für den 77-Jährigen findet am Donnerstag, 13. 2. (22 Uhr, Berlinale-Palast) statt, danach wird Loachs Film „Raining Stones“ gezeigt.
So wie Berlinale-Chef Kosslick in Filmkreisen von Alaska bis Adelaide weithin beim Vornamen Dieter gerufen wird, so weiß nicht nur in der deutschen Kinobranche jeder, wer Baumi ist: Karl Baumgartner, Herz und Seele der legendären Produktions- und Verleihfirma Pandora sowie unerschrockener Berühmtmacher internationaler Independent-Regisseure. Am Sonnabend, 8. Februar (16 Uhr, Cinemaxx 9) wird er mit der Berlinale-Kamera geehrt, Laudator ist der Finne Aki Kaurismäki. Anschließend zeigt das Festival Kaurismäkis von Pandora verliehenen Film „Das Leben der Bohème“ (1992).
Alles ist erleuchtet: Die RETROSPEKTIVE
„Mehr Licht“ verlangte Goethe, als es dunkel um ihn wurde; davon ist bei den Beleuchtungskonzepten, die für Greta Garbo – etwa in Flesh and the Devil – und Marlene Dietrich (in Shanghai Express) entwickelt wurden, nicht mehr die Rede. Licht musste modellierend, nicht erhellend wirken. Es sollte Emotionen hervorrufen, nicht Handlungen erklären. Das Gesicht der Garbo machte ein seitliches Glamourlicht zur „Göttlichen“, Josef von Sternberg setzte für Marlene Dietrich dagegen ein steil einfallendes Führungslicht ein. Heute werden Stars kaum mehr so zur Ikone erhoben – nicht einmal Nina Hoss von Christian Petzold.
Schatten, Licht, dazu Bewegung – darunter lassen sich nahezu alle Filme subsumieren. Aber erst die technischen Erfindungen in der Zeit der Weimarer Republik eröffnen der Kunst entscheidend neue Möglichkeiten mit der beweglichen Kamera, der flexiblen Beleuchtung, dem empfindlichen Filmmaterial. Pionierleistungen aus Skandinavien werden weiterentwickelt, der expressionistische deutsche Film wirkt nach Frankreich, in die USA und von dort vor allem nach Japan. Der Regisseur F. W. Murnau wird nach Hollywood gerufen (Sunrise), der Kameramann Eugen Schüfftan arbeitet in Frankreich (La belle et la bête).
Die Retro schaut ins Weltkino hinaus
Fast 40 Filme zeigt die Retro – Bekanntes und Filme, die geläufige Begriffe vom Weltkino erweitern. So gehören etwa neben Kurosawa (Rashomon)und Mizoguchi (Erzählungen unter dem Regenmond) Yamamoto und Yamanaka, Kinugasa und Naruse zum Reichtum des japanischen Filmkontinents. Dort dominierten in den zwanziger Jahren fröhliche Alltagskomödien, denen die Helligkeit der Ausleuchtung entsprach. Wenn die Helden aber nachts durch düstere Städte streifen und ihre Schwerter in Räuberhöhlen aufblitzen (An Actor's Revenge), brauchte man für die Kulissen eine realistischere Lichtsetzung. Vorbild für hypnotische Nachtaufnahmen sind Szenen aus deutschen Straßenfilmen, etwa Berlin. Die Sinfonie der Großstadt und Unter der Laterne.
Noch ein Hinweis? Ein kleines Juwel ist Die Liederschlacht der Mandarinenten: In diesem Märchen spielen, 25 Jahre vor „Die Regenschirme von Cherbourg“, Japans Sonnenschirme eine Hauptrolle. Deren Farben werden in freundlichen Liedchen akustisch ausgemalt – ein echtes Samurai-Musical.
Kurs auf ferne Länder: Die Sektion PERSPEKTIVE
Kirgistan. Kuba. Indien. Das sind einige der Schauplätze der diesjährigen Perspektive Deutsches Kino. Eine unübersehbare Tendenz zur Heimatflucht hat den hiesigen Nachwuchs erfasst. Aber wenn sie in der Ferne gute Geschichten finden, kann einem die Globalisierung der JungfilmerSicht natürlich nur recht sein. Gleich zwei Dokumentationen begeben sich in die Einöde Zentralasiens. Flowers of Freedom von Mirjam Leuze schildert den Kampf einer wackeren AktivistinnenGruppe gegen die Umweltsauereien, die der Goldabbau im kirgisischen Dorf Barskoon verursacht. Wohingegen die Kurzdoku Bosteri unterm Rad von Levin Hübner wunderbar absurde Bilder am Ufer des gigantischen Gebirgssees Issyk-Kul findet. Im kirgisischen Steppenkaff Bosteri warten Riesenrad und Achterbahn auf Touristen, die nicht gerade in Scharen herbeizuströmen scheinen.
Heiter bis wonnig geht’s auch in Amma und Appa von Franziska Schönenberger und Jayakrishnan Subramanian zu. Das deutsch-indische Liebespaar dokumentiert das erste Zusammentreffen seiner Eltern. Bayerische Provinz begegnet südindischem Buddhismus, ein Clash der Sitten und Weltanschauungen, der erwartungsgemäß ziemlich komisch ausfällt („Die Franzi hatte schoan imma den Hang zum Exotischen“). Garantiert das diesjährige Feel-good-Movie der Reihe.
Schroffere Töne schlägt dagegen der Kurzspielfim El carro azul von Regisseurin Valerie Haine an, die zwei ungleiche Brüder im seltsam entrückten Wartestand auf Kuba zeigt. Überhaupt ist den Geschwisterkonstellationen kein Glück beschieden. Der Eröffnungsfilm der Reihe – Maximilian Leos Hüter meines Bruders – handelt vom Arzt Gregor, dessen Bruder während eines gemeinsamen Segeltörns spurlos verschwindet. Immer mehr gerät der brave Gregor darüber aus dem Tritt, findet in sein Reihenhausleben nicht zurück.
In welchem Land Zeit der Kannibalen von Johannes Narber spielt, ist dagegen fast gleichgültig. Ob Indien oder Nigeria – für die Unternehmensberater Öllers und Niederländer (toll: Devid Striesow und Sebastian Blomberg) sind das nur Business- und Profitkulissen. Ihr menschenverachtendes Monopoly findet ausschließlich hinter den Schallschutzscheiben von Luxushotelzimmern statt. Wobei den deutschen Consultern der Zynismus noch vergehen wird. Die Globalisierung schlägt zurück. In einem der stärksten Filme der Reihe.
Federkönig trifft Supernova: GENERATION KPLUS und 14PLUS
Lila will wissen, wer ihr Vater ist, unbedingt. Die Zwölfjährige hat das Glück, dass ihre Lehrerin sich mit ihr auf die Suche macht: Naturkunde (Argentinien/Frankreich) öffnet ein Fenster zur Welt, leise, einfühlsam, verständlich. Nicht alle Filme in Generation Kplus (für Kinder unter 14 Jahren empfohlen) sind auch für Kinder gemacht. In Meiner Seelen Wonne aus Japan muss ein Mädchen mit dem Tod der Eltern klarkommen, ein extrem langsamer Film. Geduld verlangt auch Folge meiner Stimme, eine wunderbare Geschichte aus den türkischen Kurdengebieten.
Wer Action liebt, dem sei Die geheime Mission (Dänemark) und Mitten in der Winternacht (Niederlande) mit dem ulkigsten Elch der Filmgeschichte empfohlen: originell, lustig, temporeich mit allem Drum und Dran. Poetisch mit spirituellem Einschlag ist Finn: Ein Junge will Bratsche lernen, statt Fußball zu spielen. Fünf der zwölf Kplus-Spielfilme sind Animationen, so viele wie noch nie. Darunter die Lindgren-Adaption Michel und Ida aus Lönneberga und der 3-D-Film Johan und der Federkönig, eine etwas verwirrende Story um einen Hasenjungen, der seine Mutter sucht. Im französischen Eröffnungsfilm Loulou, das unglaubliche Geheimnis geht es recht blutrünstig zu, das Gothic-Musical-Spektakel Jack und das Kuckucksuhrherz dürften Frühpubertierende toll finden. Tante Hilda! ist hingegen nur was für Leute, die sich für Genmais, korrupte Regierungen und Großkapital in Zeichentrick interessieren.
14plus zeigt das Erwachsenwerden auf - auch für Jahrtausende alte Vampire
Erwachsenwerden ist eine Zeit voller Anfänge. Mal kommt das Neue mit einem Knall, mal lässt es auch auf sich warten in den Filmen der Generation 14 Plus. Da gibt es das Mädchen Meis im niederländischen Film Supernova, die mit ihrer Familie im ländlichen Nirgendwo neben einer halb fertigen Stahlbrücke wohnt. Sie träumt von einem Jungen, wünscht sich ein bisschen Liebe herbei. Da sind auch Jota und Simon, zwei spanische Taugenichtse in Ärtico. Der eine will seiner Verantwortung als viel zu junger Vater entfliehen, der andere sehnt sich nach ein bisschen Familie und Erwachsensein.
Selbst die ganz Alten üben ein ewiges Coming-of-Age: In What We Do in the Shadows übt sich eine Vampir-WG (die vier Sauger bringen es auf 9424 Jahre Lebens- bzw. Totenzeit) in Clubbesuchen und Flirtversuchen.
17 Beiträge gibt es für Kids ab 14, oft befinden sich die Helden auf verlorenem Posten. In den engen Gassen von Glasgow im Eröffnungsfilm God Help the Girl von „Belle and Sebastian“-Sänger Stuart Murdoch. Im italienischen Dorf, das die Mafia zum Schweigen verdammt, in Il Sud è Niente. In der chinesischen Familie, die – neuerdings erlaubt – ein zweites Kind bekommt: Und die Ältere hat das Nachsehen, in Einstein und Einstein. Mal wieder nicht leicht, jung zu sein.