Prominenz von Jodie Foster bis zu Spike Lee: Das Filmfestival von Cannes ist ein Befreiungsschlag für die Branche
Wes Anderson, Ildikó Enyedi, Paul Verhoeven: Das weltweit wichtigste Festival startet mit einem überwältigenden Programm.
In den kommenden zwei Wochen verwandelt sich Cannes wieder in ein Filmset. Das Filmfestival diente in der Vergangenheit schon öfters als Kulisse:
Brian de Palmas Thriller „Femme fatale“ spielte mitten im Trubel, der US-Indie „Festival in Cannes“ (mit Anouk Aimée) wurde 1999 on location im berühmten Carlton Hotel gedreht, Dave Winter schoss 1980 „The Last Horror Film“ guerilla style an der Croisette – und Rowan Atkinson durfte für „Mr. Bean macht Ferien“ seine Kameras sogar am roten Teppich aufstellen. Diesen Juli aber soll Cannes nicht nur als Bühne herhalten.
Das Festival beschenkt sich mit einer Dokumentation
Im kommenden Jahr feiert das wichtigste Filmfestival seinen 75. Geburtstag, Thierry Frémaux möchte den Anlass mit dem Dokumentarfilm „Cannes Uncut“ würdig begehen. Ein Team um den britischen Produzenten Colin Burrows wird in den nächsten zwei Wochen auf dem Festival drehen, die Weltpremiere ist 2022.
Vor allem aber darf man sich wohl auf das Archivmaterial freuen: Die Partys an der Croisette sind legendär, das Schaulaufen der Stars hat immer schon den besonderen Reiz von Cannes ausgemacht.
Insofern könnte man sich wirklich kein besseres Jahr für solch ein Filmprojekt vorstellen. Wenn am heutigen Dienstag das Festival mit dem Musical „Annette“ des französischen Unikums Leos Carax eröffnet (in den Hauptrollen Adam Driver und Marion Cotillard, die Musik stammt von der ArtPop-Band The Sparks), dürfte sich das wie ein Befreiungsschlag anfühlen.
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Nachdem im vergangenen Jahr Cannes coronabedingt abgesagt werden musste, scharrt die Branche seit Wochen mit den Hufen – ungeachtetet der Tatsache, dass die Delta-Variante des Virus sich gerade rasant in Europa verbreitet. In Frankreich aber dürfen die Kinos seit einer Woche wieder zu 100 Prozent ausgelastet sein – Emmanuel Macron sei dank, der das Kino zu einem „Ort des täglichen Lebens" erklärte, in einer Liga mit Restaurants und Theatern.
Angesichts einer solchen Wertschätzung qua Regierungsdekret blickt man als deutscher Filmfan natürlich neidisch zu den europäischen Nachbarn hinüber. Aber in den vergangenen Tagen überwiegt angesichts der Nachrichtenlage und den Bildern feiernder Fußball-Fans an EM-Austragungsorten wieder ein latentes Unbehagen.
Auch die Croisette dürfte die nächsten zwei Wochen einer Fanmeile ähneln: Die Zahl der Akkreditierten erinnert wieder an die guten alten Zeiten, die Sehnsucht nach einer Rückkehr des Kinos, von Cannes-Chef Frémaux proklamiert, ist ungebrochen.
Nur das mit dem Feiern wird wohl etwas schwieriger, Festival-Präsident Pierre Lescure kündigte bereits an, dass die Partys deutlich kleiner ausfallen. Der Schweizer Juwelier Chopard etwa, der die Goldenen und Silbernen Palmen produziert, hat zu seiner traditionellen Party auf der Terrasse des Hôtel Martinez nur 300 statt der üblichen 1000 Gäste geladen.
Nicht nur weil Frémaux die diesjährige Ausgabe nach der Corona-Pause zum Testlauf für die Jubiläumssause 2022 erklärt hat, dürfte es ein denkwürdiges Festival werden. Viele der Regisseur:innen, die bereits im vergangenen Jahr für Cannes bestätigt waren, haben ihre Filme zurückgehalten.
Starbesetzung bei Wes Anderson
Der prominenteste unter ihnen ist Wes Andersons „The French Dispatch“, dessen Starbesetzung – mit Benicio del Toro, Adrien Brody, Tilda Swinton, Léa Seydoux, Frances McDormand, Timothée Chalamet, Mathieu Amalric, Bill Murray, Saoirse Ronan, Anjelica Huston etc. – allein ein eigenes Festival rechtfertigen würde.
Frémaux konnte sich gewissermaßen das Beste aus zwei Jahrgängen herauspicken, entsprechend überwältigend liest sich die offizielle Auswahl in Wettbewerb, Un Certain Regard und der eigens eingerichteten Nebenreihe Cannes Premières, in der en passant Filme von etablierten Namen wie Andrea Arnold, Kornél Mundruczó, Hong Sangsoo, Oliver Stone und Charlotte Gainsbourg laufen.
Das Unterfangen mutet in seinem Größenwahn absurd an, das Programm zeigt aber auch, dass Corona die internationale Filmproduktion nicht wie befürchtet lahmgelegt hat. Die Crème de la Crème des internationalen Autorenkinos ist auch im Wettbewerb vertreten: der notorische Querkopf Paul Verhoeven mit seinem Nonnendrama „Benedetta“, mal wieder Sean Penn, die Bären-Gewinner:innen Ildikó Enyedi, Nadav Lapid, Asghar Farhadi, die Cannes-Darlings Kirill Serebrennikow und Apichatpong Weerasethakul, Nanni Moretti und erstmals die französische Regisseurin Mia Hansen-Løve.
Wie sollen all die Filmen ins Kino finden?
Schwieriger ist da schon die Frage zu beantworten, wie all diese Filme überhaupt den Weg in die Kinos finden sollen. Aber Thierry Frémaux ist gewillt, die 74. Filmfestspiele zu einem Fest des Kinos zu machen, der ganz große Aufschlag. Dafür ist ihm jedes Mittel recht. Als kleines Bonbon hat er sich die Europa-Premiere des Boliden-Blockbusters „The Fast and Furious 9“ gesichert. Fastfood und Fine Dining, Cannes versucht den kulinarischen Brückenschlag.
Der populäre Vorstoß – Cannes hatte zuletzt seinen Reiz auf die großen Hollywood-Studios ein wenig eingebüßt – trifft sich mit Frémaux' Ankündigung, den elitären Ruf seines Festivals zu korrigieren. Im Frühjahr gab er in einem Interview mit dem amerikanischen Branchenmagazin „Variety“ zu, dass Cannes mitunter einschüchternd wirke.
Spike Lee sitzt der Jury vor
Wer sich einmal dem rigiden Einlassprotokoll im Festival Palais ausgesetzt sah, kann das bestätigen. Corona hat auch Frémaux Demut gelehrt, der sich in den jüngsten Debatten – zu MeToo/Diversität, Netflix oder Nachhaltigkeit in der Branche – als erstaunlich beratungsresistent erwies. In diesem Jahr hat Cannes nun eine Intiative für einen grünen Fingerabdruck der Filmindustrie gestartet.
Mit dem Regisseur Spike Lee sitzt erstmals eine Person of Color der Jury vor. Lee, der das offizielle Festivalplakat ziert, hatte vor drei Jahren mit „BlacKkKlansman“ den Großen Preis der Jury gewonnen. Mit den Regisseurinnen Mati Diop und Jessica Hausner, den Schauspielerinnen Maggie Gyllenhaal und Mélanie Laurent, dem Brasilianer Kleber Mendonça und dem Franzosen Tahar Rahim ist die Jury zudem so divers und fachkundig besetzt wie lange nicht mehr.
Erst eine Regisseurin gewann die Palme
Das macht Hoffnung, denn ein Problem konnte Frémaux bisher nicht lösen: Cannes wartet seit 1993 auf die zweite Goldene Palme für eine Regisseurin. Damals ging sie an Jane Campion, die ihre neue Netflix-Produktion wahrscheinlich im September in Venedig zeigen wird. Besonders hoch ist die Wahrscheinlichkeit aber auch dieses Jahr nicht, nur vier der 24 Filme im Wettbewerb entstanden unter weiblicher Regie.
Aber auch das gehört zur schönen Cannes-Tradition: Irgendwas zu meckern gibt es immer. Sitzt man dann aber wieder im ruhmreichen Grand Théâtre Lumière, verpufft der Missmut über die Überheblichkeit der Franzosen, die das Kino nun mal als ihre ureigene Kunst betrachten, über die ewigen Warteschlangen und die etwas zu routinierte Filmauswahl. Cannes wickelt einen noch immer um den kleinen Finger.
Das Kino sieht in Cannes immer besser aus
Auch das erratische Corona-Protokoll (Maskenpflicht ja, aber nur 48-Stunden-Tests, gültige Tests im Palais, nicht aber in den Kinos, Social Distancing in vollen Sälen) wird seine Sinnhaftigkeit schon unter Beweis stellen. Wohl auch deswegen hat sich das Festival über die Jahrzehnte eine gewisse Arroganz zu eigen gemacht:
Das Publikum erduldet die kleinen Erniedrigungen, weil das Kino in Cannes einfach besser aussieht, immer ein bisschen überlebensgroß. Schon der kleine Sadist Hitchcock wusste das und hat an der Côte-d’Azur seinen flirrendsten Film gedreht, „Über den Dächern von Nizza“. Wo sonst also sollte das Kino sein Comeback feiern?