Berlinale 2017: Panorama: Auf den Gräbern wachsen die Pinienwälder
Verdrängte Verbrechen, Überleben in der Krise: Das Panorama blickt auf ein geschundenes Europa, von der Nachkriegszeit in Ungarn bis zur Krise in Griechenland.
So könnte auch ein Western anfangen: Ein Zug fährt ein, zwei Männer steigen aus. Ihre Ankunft sorgt schon auf dem Bahnsteig für Unruhe. Sie haben zwei große Kisten dabei und halten die Gepäckträger zu äußerster Vorsicht an. Sie gehen hinter dem Pferdewagen her, der die kostbare Fracht ins Dorf karrt. Der Stationsvorsteher fährt unterdessen auf dem Fahrrad voraus, um die Bewohner über die Ankunft der Fremden zu informieren.
Doch Ferenc Töröks „1945“ ist kein Western, jedenfalls nicht im engeren Sinne. Er spielt, der Titel sagt es schon, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, irgendwo in der ungarischen Provinz. Mit dem amerikanischsten aller Genres verbindet ihn dennoch mehr als nur die Anfangssequenz und seine altmodisch-elegante Erzählweise: Hier wie dort geht es um jene Phase der Geschichte, in der das ideelle Fundament des Landes verhandelt und gebildet wird. „1945“ ist einer von mehreren Filmen im Panorama, die Fragen nach dem Wesen und Zustand Europas stellen – und die Antworten, die er gibt, sind äußerst unbequem.
Ein schonungsloser Film, ausgerechnet aus Ungarn
Was die Dorfbewohner an den Ankömmlingen so beunruhigt, ist, dass sie offenkundig Juden sind. Das eben noch friedliche Dorf, das sie ansteuern, gerät durch die Nachricht ihrer Ankunft in panische Erregung. Der Wohlstand der Bürger wurde – so zeigt sich – durch Verrat errungen, das Idyll basiert auf Lügen und der Friede weicht allmählich einem Komplex aus Gier, Schuld und der Angst, den unrechtmäßig erworbenen Status und Besitz wieder abtreten zu müssen.
Die Verstrickung in die Verbrechen des 20. Jahrhunderts ist ein Erbe, das Europa nicht ausschlagen kann: Dass dieser schonungslose Film ausgerechnet aus Ungarn kommt, wo die Orbán-Regierung bemüht ist, das ganze Land als Opfer der deutschen Besatzung darzustellen, und damit jegliche Kollaboration und Mittäterschaft ausblendet, macht ihn umso bemerkenswerter.
Von Erinnerung und Verdrängung erzählt auch der Dokumentarfilm „Bones of Contention“. Ausgehend vom Mord an Federico García Lorca untersucht die Regisseurin Andrea Weiss die Verfolgung von Homosexuellen im Franco-Regime und hinterfragt auch die bis heute weitgehend ausbleibende Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit. „Wir haben tausende Zivilisten ermordet. Wir haben unermessliche Mengen an Gütern und Geld gestohlen. Und als die Demokratie kam, durften wir alles behalten“, sagt Emilio Silva im Film: „Es war das perfekte Verbrechen.“
Spanischer Wahlkampf als Erfolgsgeschichte
Silva ist Gründer des Vereins zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung (ARMH), der sich dem Exhumieren von Opfern der Diktatur verschrieben hat. Junge Pinienwälder, erklärt Silva, können ein Indiz für Massengräber sein, sie wurden häufig mit dem Ziel angelegt, dass ihr rasch wachsendes Wurzelwerk die unterirdischen Spuren verwischen möge. In Spanien ist die Arbeit der ARMH umstritten, wie alles, was gegen den „Pakt des Schweigens“ verstößt, der nach Francos Tod im Sinne des Übergangs zur Demokratie geschlossen wurde. Die Täter von damals sind bis heute durch ein Amnestiegesetz vor juristischer Verfolgung geschützt. Und die zaghaften erinnerungspolitischen Schritte, die der sozialistische Ministerpräsident Zapatero vor zehn Jahren eingeleitet hat, wurden von seinem konservativen Nachfolger Rajoy größtenteils rückgängig gemacht.
Nicht um die Vergangenheit, sondern um die krisengebeutelte spanische Gegenwart geht es in „Política, manual de instrucciones“, der die linke Protestpartei Podemos im Vorfeld der Parlamentswahlen 2015 begleitet. Der spielfilmerfahrene Regisseur Fernando León de Aranoa zieht alle modischen Register – vom dynamischen Schlagzeug-Score à la „Birdman“ bis zu eingeblendeten Chat-Nachrichten und Tweets wie bei „House of Cards“ –, um den Wahlkampf als mitreißende Erfolgsgeschichte zu erzählen.
Sachzwänge bestimmen die Entscheidungen
Obwohl der Partei mit Spitzenkandidat Pablo Iglesias und seinem Chefstrategen Íñigo Errejón zwei dampfplaudernde Politikwissenschaftler vorstehen, geht es kaum je um konkrete politische Inhalte. Wenn der Vorwurf aufkommt, Podemos werde von lateinamerikanischen Despoten finanziert, wird nicht dessen Wahrheitsgehalt untersucht, sondern seine Auswirkung auf die Umfragen. Zugunsten des uneingeschränkten Zugangs zur Parteizentrale blendet Aranoa jegliche kritische Gegenposition aus: Das ist wohl der Preis, den er für diese Form des embedded filmmaking zahlen muss. Dennoch gelangt der Film – ob gewollt oder nicht – zu tiefen Einsichten über die Demokratie: Auch eine Partei, die mit dem Versprechen einer völlig anderen Politik antritt, muss im Wahlkampf nach denselben Regeln spielen wie alle anderen. Denn es sind nicht die Regeln der Politik, die hier gelten, sondern die der Wirtschaft und der Werbung. Der Wahlkampf verwandelt noch den idealistischsten Aktivisten in einen Spin-Doktor. Wirksamer können Protestbewegungen nicht ausgebremst werden.
Gänzlich machtlos ist die Politik schließlich in „Combat au bout de la nuit“, einer Langzeitstudie über Griechenland in Zeiten der Krise. Ob die Regierung konservativ ist oder links, ob sich die Bürger im Volksentscheid für oder gegen die Sparpolitik aussprechen, spielt keine Rolle: Sachzwänge bestimmen die Entscheidungen. „Ich bin keine Freiwillige, keine Ehrenamtliche“, sagt eine Frau, die ohne Honorar in einer Sozialklinik für Patienten ohne Krankenversicherung arbeitet. „Wir versuchen, in Zeiten des Umbruchs eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Es ist meine Pflicht, dabei mitzuhelfen.“ Machtlose Politiker, versagende Institutionen, eskalierende Konflikte: Es ist ein erschütterndes Bild, das der kanadische Regisseur Sylvain L’Espérance in seinem fünfstündigen Dokumentarfilm zeichnet. Auch in der Gegenwart, so scheint es, ist Europa nicht gegen Wildwest-Zustände gefeit.