Vor der Verleihung des Lola-Ehrenpreises: "Das endlose Erzählen ist ein glücklicher Zustand"
Am Freitag erhält Edgar Reitz den Ehrenpreis der Deutschen Filmakademie. Ein Gespräch über Heimat in Zeiten des Virus und die Zukunft des Kinos.
Der Filmemacher Edgar Reitz, 1932 im Hunsrückdorf Morbach geboren wird an diesem Freitag mit dem Ehrenpreis der Deutschen Filmakademie ausgezeichnet. Die von Edin Hasanovic moderierte Lola-Gala findet live im Ersten statt, ab 22.15 Uhr. Laudatoren und Gewinner sind aus ihren Wohnzimmern zugeschaltet. Reitz, der in München studierte, war Mitinitiator des Oberhausener Manifests, das en neuen deutschen Film begründete. Nach Spielfilmen wie „Mahlzeit“ (1967), „Die Stunde Null“ (1977) und „Der Schneider von Ulm“ (1978) entstand seine Heimat-Trilogie mit 31 Einzelfilmen. 2014 erhielt er für sein 230-minütiges Prequel „Die andere Heimat“ die Lola in Gold.
Herr Reitz, als Regisseur von gut 60 Stunden „Heimat“-Filmen haben Sie das Private zu Ihrem Lebensthema gemacht. Durch die Coronakrise sind nun alle weitgehend auf den privaten Radius reduziert, wir bleiben zuhause. Wie geht es Ihnen damit?
Ich glaube, der Unterschied ist gar nicht so groß. Die Bedeutung der Haustüre, durch die man in eine andere Welt tritt, wird vielleicht überschätzt. Ich komme aus Morbach, einem Dorf im Hunsrück, wo die Haustür nie abgeschlossen war. Ob wir nun in unserer Privatsphäre oder in der Öffentlichkeit agieren, wir sind keine grundsätzlich anderen Wesen. Die Sphären gehören zusammen. Wenn ich zusperre, ist es nur zu meinem eigenen Nachteil.
Wegen Corona müssen wir nun zusperren. Verändert sich jetzt das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Raum?
Wir lernen gerade, dieses Verhältnis grundsätzlich zu bedenken, schon wegen der Versorgungssysteme. Alles, was wir zum Leben benötigen, kommt aus dem öffentlichen Raum, vom Essen über Informationen und Unterhaltung bis zu den Kontakten mit unseren Familien und Freunden. Ohne den öffentlichen Bereich können wir nicht existieren. Und gleichzeitig ist er jetzt eine Gefahr. Der normale Modus der Gesellschaft ist plötzlich gefährlich. Hinzu kommt, dass wir unglaublich unwissend sind, was die Quelle des Übels angeht. Sie liegt im Verhältnis des Menschen zur Natur begründet.
Wir dachten, wir beherrschen die Natur, aber nun ist es umgekehrt?
Der biblische Auftrag, macht euch die Welt untertan, ist ja auch das Credo der Wissenschaften. Die Unwissenheit ist der eigentliche Schrecken: dass wir kein Heilmittel gegen das Virus haben, seine inneren Gesetzmäßigkeiten nicht kennen. Wir ahnen nur, die Ursache muss irgendwo in unserem Lebensstil liegen. Wenn jetzt politisch über weitere Lockerungsmaßnahmen diskutiert wird, besteht die große Gefahr, dass wir viel zu schnell wieder vergessen, was da schiefgelaufen ist. Das darf nicht geschehen.
Hat Ihr Beharren auf die Erinnerung damit zu tun, dass Sie seit vielen Jahrzehnten ein Geschichtenerzähler sind?
Sicherlich. Die Quelle der künstlerischen Arbeit ist die Erinnerung. Die Künste sind eines der wenigen Mittel, mit denen sich die Menschheit gegen das Vergessen und das Vergehen aller Erfahrungen und Erlebnisse verteidigen kann.
Warum ist es so wichtig, Geschichten zu erzählen?
Wir nehmen unser Leben in Besitz, indem wir es in Geschichten verwandeln und so unserem Bewusstsein hinzufügen. Auf diese Weise arbeiten wir gegen das Vergehen und hinterlassen den anderen ein Stück unseres Lebens in Form von Geschichten. Wir bereichern den Erfahrungshorizont aller – und ein Spaß ist es auch noch!
Alle gucken jetzt Serien, gerade in Corona-Zeiten. Als „Heimat“ mit elf Folgen 1984 ins Fernsehen kam, war das epische Erzählen nicht gerade in Mode.
Es heißt ja öfter, ich sei ein Pionier des epischen Erzählens. In Wahrheit lag es an meinem Erzähltalent. Wissen Sie, das Dramatische ist nicht meine Sache. Das Drama, ob im Kino oder im Theater, braucht ja eine Verschärfung auf einen Konflikt hin, das hat mir nie gelegen. Vielleicht waren meine frühen Filme deshalb nicht erfolgreich. Eines Tages merkte ich, wenn ich erzähle, ohne auf den Schluss zu schauen, blühe ich auf. Die Fantasie sprüht! Deshalb habe ich angefangen, so ausufernd zu erzählen. Beim Fernsehen sagten sie mir: Das wird Sie aber mindestens ein Jahr kosten. Am Ende war ich 30 Jahre mit den „Heimat“-Filmen beschäftigt.
Sie zitieren gerne den schönen Satz von Karl Valentin: „Solang ich leb‘, muss ich ja damit rechnen, dass ich weiterleb‘.“
Ein wunderbares Motto, es entschärft alle Dramen. Das endlose Erzählen ist ein glücklicher Zustand. Aber auch das Virus kennt kein Drama, auch da muss man damit rechnen, dass es immer weiterlebt. Es ist keine Bombe, die man entschärfen kann: Paukenschlag, Punkt, Ende, so wird es nicht sein. So ist ja auch die Natur eingerichtet. Die Tierwelt, die Pflanzenwelt, alles existiert miteinander und aneinander vorbei, entsteht und vergeht und entsteht wieder. Noch einmal: Wir brauchen ein neues Verhältnis zur Natur, bei dem wir uns nicht als ihr Herrscher aufspielen.
Die Welt ist ein Dorf, lautet das Mantra der Globalisierung. Durch Corona sind die Nachbardörfer plötzlich unerreichbar geworden. Wie erleben Sie diese Re-Regionalisierung?
Die Tendenz dazu gibt es bereits seit einigen Jahren. Heimat wurde ein Modebegriff, aber mit meinen Filmen hat das nichts zu tun. „Heimat“ ist kein Heimatfilm, das Genre habe ich immer verachtet. Es war mir unangenehm, mit dieser ideologisierten Vorstellung von Heimat seitens der neuen Rechten auch nur in Verbindung gebracht zu werden. Das Gefühl, dass die globale Wirtschaftsverflechtung nicht gut geht, wurde immer stärker, aber wir lösen die Probleme der Globalisierung nicht, indem wir uns wieder in unsere Dörfer zurückziehen.
Wie kamen Sie eigentlich auf "Heimat", Ihr Lebensthema?
Wie kamen Sie eigentlich auf das Thema Heimat? Wurden Sie nach dem Flop mit „Der Schneider von Ulm“ 1978 plötzlich von der Sehnsucht nach Morbach übermannt?
Das geschieht ja auch anderen Filmemachern, man fällt auf die Schnauze, ist finanziell unter Druck. Da fragte ich mich, ob es überhaupt richtig ist, Filmemacher geworden zu sein. Der Sohn eines Uhrmachers, der Enkel des Dorfschmieds, es gab zwar diese kleinbürgerliche Aufstiegsmentalität, aber niemand in der Familie hatte akademische Ambitionen. Wie war es bei mir dazu gekommen, dass ich aus der Tradition ausbreche? Also fing ich an, mich mit meiner Familie zu beschäftigen, weit weg in München, die Eltern und den Hunsrück hatte ich lange nicht gesehen. Die Lücken bei meinem spärlichen Wissen über meine Eltern und Großeltern musste ich mit meiner Fantasie ausfüllen.
Ein Krisen-Projekt.
Ich vergewisserte mich meiner selbst und merkte: Das bin ja nicht nur ich. Ich setze mich zusammen aus dem Leben vieler Menschen, die mich geformt und geprägt haben. Deshalb spiegelt sich in meiner Lebensgeschichte die Zeitgeschichte wider, und so wurde es kein Film über mich, sondern über das 20. Jahrhundert.
Was haben Sie dabei über das Wesen der Zeit gelernt? Unser Zeitempfinden ändert sich ja gerade stark.
Es stimmt, die Tage vergehen anders, wir leben viel gegenwartsbetonter, weniger auf Ziele ausgerichtet. Die Zeit staut und beschleunigt sich weniger, sondern verläuft sehr gleichmäßig, ein ruhiger Fluss. Zeit ist etwas sehr Subjektives. Wir wissen seit unserer Kindheit, dass wir sterben werden und nichts für alle Zeiten besitzen können. Das Leben ist ein immerwährendes Abschiednehmen, das macht einen auch traurig. Nicht nur, weil Menschen sterben, die man lieb hat. Auch die Liebe endet, oder ein glückliches Jahr, die Jahreszeiten gehen vorbei. Auch das Filmemachen ist eine Form des permanenten Abschiednehmens. Als Regisseur bin ich in der glücklichen Lage, die Gegenwart im Moment des Abschiedes mit der Kamera bannen zu können. Ich kann sie dem Vergessen entreißen und in die Parallelwelt der Künste verpflanzen, die nicht vergänglich ist.
Warum gehen eigentlich so viele erzählerische Impulse von dem Begriff Heimat aus?
Es ist ein rätselhaftes, reiches, vielschichtiges Wort, und ein großes Geschenk im Deutschen. In vielen Sprachen existiert kein Äquivalent. Schon deshalb habe ich mich immer dagegen gesträubt, dass das Wort für politische Zwecke oder touristischen Kitsch eingespannt wird. Dann verliert die Heimat ihre Poesie. Und es gehört zu unserem Wesen, dass man sich von seiner Herkunft auch löst. Erst wenn man das geschafft hat, kann man zurückkehren.
Etwas anderes ist es, wenn man seine Heimat unfreiwillig verlässt und flüchten muss.
Heimat ist ein Ort, um den keine Grenzen gezogen werden dürfen. Alle Menschen haben ein Verlangen nach Geborgenheit, aber in einem offenen Raum. Diese beiden Bedingungen sind ein Ideal, das vielen vielen Menschen vorenthalten wird. Jeder, der gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen, trägt eine schreckliche Wunde in der Seele. Das müssen wir bei der Flüchtlingspolitik berücksichtigen. Niemand kommt aus Jux und Dollerei hierher. Die Flüchtlinge sind hilfsbedürftig, sie haben etwas unter Schmerzen verloren. Wenn wir diesen Blick nicht mehr haben, verlieren wir alle menschlichen Qualitäten. Mir ist das unbegreiflich.
Haben Sie deshalb im vierten Teil, „Die andere Heimat“, von der Auswanderung der Deutschen im 19. Jahrhundert erzählt?
Sie halten bis heute in Brasilien an ihren Gebräuchen fest, nach 150, 200 Jahren singen sie noch ihre Weihnachtslieder und feiern ihre alten Feste. Und wir regen uns auf, wenn Menschen aus dem arabischen Raum ihre Traditionen pflegen wollen.
Welche Gefahr geht man eigentlich ein, wenn die eigene Familie, die eigene Herkunft zum künstlerischen „Material“ wird?
Jeder Künstler verwandelt seine eigene Erfahrung, sein Leben in ein Werk, das macht seine Glaubwürdigkeit aus. Aber es ist eine subtile Angelegenheit. Ich gebe einer fiktiven Figur die Eigenschaften meiner Mutter oder meiner ersten Liebe, und wenn ich mich später an meine reale erste Freundin erinnern will, steht mir die Schauspielerin, die ihre fiktionalisierte Gestalt verkörpert hat, im Wege. Ich sehe das Gesicht nicht mehr. Man verliert das eigene Leben in den Werken. Die Verwandlung ist nicht harmlos, man bekommt es nicht zurück. Wie war es denn wirklich? Es ist ein Verlust, der ebenfalls einen Abschiedsschmerz mit sich bringt.
Betreiben wir diese Verwandlung nicht alle, wenn wir von früher erzählen?
Es gibt keine Erinnerung ohne Fiktionalisierung. Das Leben schreibt nicht die schönsten Geschichten, wir sind es selbst.
Ist das Problem des deutschen Films immer noch das Fernsehen, Herr Reitz?
Die Kinos sind geschlossen, wegen der Coronakrise. Sie haben immer leidenschaftlich an die Zukunft des Kinos geglaubt, warum eigentlich?
Weil wir soziale Wesen sind und diesen Zustand der höheren Gestimmtheit in der Gesellschaft mit anderen suchen. Wir haben ein spezielles Organ der Gemeinschaftswahrnehmung. Ein volles Stadion erzeugt ein anderes Fußballerlebnis als vor dem Fernseher. Oder im Kino, in dem wir im Dunkeln die Anwesenheit hunderter anderer Menschen wahrnehmen: Dort berührt uns ganz anders, was wir hören und sehen. Das Gefühl, etwas Besonderes, etwas Großes erlebt zu haben, entsteht nicht alleine. In diese Dimension hinein katapultiert zu werden, das werden wir auch im Kino der Zukunft gemeinsam erleben wollen.
Und wie sehen Sie diese Zukunft?
Das Kino ist durch die Digitalisierung ohnehin in der Krise. Gerade werden die digitalen Medien noch mehr entdeckt, wobei unsere soziale Natur da durchaus Raum findet. Mehr und mehr registrieren wir, dass wir beim Surfen nicht alleine unterwegs sind, zum Beispiel bei all den Live-Streamings aus Wohnzimmern. Ich bin aber überzeugt, dass wir das Kino neu erfinden werden. Eines, das sich nicht länger gegen die digitalen Medien abgrenzt, sondern sich mit ihnen verkoppelt. Die Übergänge zwischen dem Internet, den Streamingportalen und den Filmtheatern werden durchlässig sein. Auch sollte das Kino mehr Festivalcharakter annehmen, weniger einzelne Filme präsentieren als Veranstaltungen, Reihen. Und drittens wird der Live-Auftritt der Künstler immer wichtiger, ihre physische Anwesenheit im Kino.
Sie haben die Verflechtung von Kino und Fernsehen immer kritisch gesehen. Ist das Problem des deutschen Films immer noch das Fernsehen?
Das Fernsehen ist ein Auslaufmodell. Programme ins Wohnzimmer liefern, das können andere auch, oft besser. Das deutsche Fernsehen war einmal das beste der Welt und hat, das sollte man nie vergessen, 1984 die Produktion von „Heimat“ möglich gemacht. Der englische „Guardian“ empfahl seinen Lesern die „Heimat“-Trilogie kürzlich als wichtigste Serie in Corona-Zeiten. Läge es da nicht nahe, dass sich die Verantwortlichen der ARD entschließen, sie wieder auszustrahlen?
Der Ehrenpreis der Filmakademie wird Ihnen nun krisenbedingt ausgerechnet in einer Fernsehsendung verliehen. Nicht zur Primetime, sondern zu später Stunde. Ironie des Schicksals?
Eine Gala, bei der wir im Smoking in unseren Wohnzimmern sitzen, ist nicht procedure as every year, sondern hat etwas Ironisches. Das gefällt mir. Der Empfang danach wird mir fehlen. Dieser Moment, in dem man mit dem Weinglas in der Hand vor jemanden steht, den man lange nicht gesehen hat. Ansonsten schreibe ich weiter an meiner Autobiografie, die ich vor vier Jahren begonnen habe. Wenn man sein Leben lang gearbeitet hat, ist ein Tag, an dem man nicht arbeitet, ein unerlaubter Tag. Eine gute Übung, ich bleibe dran.
Und Sie fragen sich jetzt ständig, wie war es wirklich?
Zum Glück gibt es Dinge in meinem Leben, die ich nicht verfilmt habe.
Christiane Peitz