Krise in Österreich: Das Ende keiner Ära
Nicht nur die FPÖ ist am Ende, sondern auch der ehrgeizige Kanzler Sebastian Kurz. Ein Kommentar des österreichischen Schriftstellers Klemens Renoldner.
Was die Schriftsteller Österreichs immer schon verlangten – dass Bundeskanzler Sebastian Kurz seine von Skandalen geschüttelte Regierungskoalition besser heute als morgen auflöst – hat sich dank der Unterstützung deutscher Journalisten, denen die Freiheit der Medien in Europa etwas wert ist, überraschend eingestellt. Das demokratische, europäisch gesinnte Österreich feiert. Und die Österreicher bekommen nach eineinhalb Jahren des Schreckens eine neue Chance.
Ein Samstag im Mai. Am vergangenen Samstag jubelten meine Freunde: Die Regierung ist am Ende! Und ich jubelte mit ihnen: Nun wird aus unserem schönen Alpenland doch kein autoritär geführter Staat. Und das demokratische Österreich jubelte, weil es endlich wieder Luft zum Atmen gab: Mit einem Male hatte es wieder einen Sinn, sich mit alternativen Szenarien für die Zukunft dieses Landes zu beschäftigen. Das war uns seit dem 15. Dezember 2017, nachdem die neue Regierung, angeführt von Kanzler Sebastian Kurz, offiziell präsentiert wurde, gründlich vergangen.
Der junge, fesche Basti
Seither hatten uns sämtliche Politikversteher unmissverständlich klargemacht: Der junge, angeblich so fesche Basti in seinen immer viel zu eng geschnittenen Anzügen sei in unserer Heimat dermaßen beliebt, dass die Opposition vergleichsweise „blöd aus der Wäsche schaue“, also keinerlei Chance habe, eine Veränderung herbeizuführen. Und daher müssten wir uns alle bitte schon jetzt darauf einstellen, dass Österreich noch 20, 30 Jahre von diesem keinen Skandal auslassenden Bündnis der Konservativen, Rechten und Rechtsextremen regiert werden würde. Wenn nicht 1000 Jahre oder länger. Aber nun ist mit dem Video-Beweis aus Ibiza alles doch ganz anders gekommen. Der österreichische Albtraum hat ein Ende. Vorerst. Mindestens bis zu den nächsten Parlamentswahlen im September geht es uns nun etwas besser.
Wieder ein neuer Stil. Man darf gespannt sein, wie sich die politischen Strategien der Parteien ändern werden. Während unser Kanzler im Herbst 2017 offenbar noch der Überzeugung war, seine Regierung wäre dann besonders effizient, wenn möglichst viele säbelschwingende Burschenschafter, rechtsextreme Scharfmacher und rassistische Sprüche klopfende Halunken leitende Positionen in Ministerien übernehmen würden, hat er nun, wie man am Samstag bei seiner Rücktrittserklärung hören konnte, doch ein wenig dazugelernt. Nun gab er seiner aufrichtigen Empörung über den Stil des Koalitionspartners Ausdruck. Diese Partei namens FPÖ, so ließ uns der Kanzler am Samstag wissen, sei als Koalitionspartner komplett ungeeignet. Und deswegen sei jetzt Schluss mit dieser Regierung.
Gespenstisches Immer-Wieder
Hätte der Kanzler nur auf die Schriftsteller des Landes gehört, dann hätte er viel früher zu dieser Einsicht kommen können. Und uns wäre einiges erspart geblieben. Peter Turrini, Doron Rabinovici, Robert Menasse, Karl-Markus Gauß, ich und viele andere haben bei verschiedensten Anlässen seit Jahr und Tag immer wieder öffentlich gesagt und geschrieben, dass diese Regierung ein europäischer Skandal ist. Michael Köhlmeier warnte in seiner Rede am 4. Mai im Parlament davor, dass das "gespenstische Immer-Wieder" antisemitischer "Einzelfälle" durch FPÖ-Politiker als "Symptom der Landläufigkeit, des Normalen abgetan" werden könne. Zuletzt hatte Daniel Kehlmann am vergangenen Mittwoch in seiner Dankesrede bei der Verleihung des „Literaturpreises der österreichischen Industrie – Anton Wildgans“ den Bundeskanzler aufgefordert, die Beschädigung des österreichischen Ansehens in der Welt zu bedenken und die Koalition zu beenden. Dass es nun so rasch gekommen ist, hat sich wohl auch Daniel Kehlmann nicht träumen lassen.
Was macht ein Wunderteam. Verblüffend ist dies: Sebastian Kurz, Studienabbrecher, noch sehr jung, hat natürlich ein tolles Beraterteam. Es handelt sich um 120 Personen, die gewissermaßen rund um die Uhr sowohl für Medienpräsentation wie die glatte Façon des Kanzlers verantwortlich sind. Warum waren ihm „seine“ Leute nicht behilflich? Es kann ja nicht alles sein, für den Chef die Slim-fit-Anzüge zu bügeln, das Make-up aufzutragen, das mächtige Haar zu frisieren und mit Gel in Form zu bringen?
Wachsfigur vor der Fernsehkamera
Erstaunlich auch, dass selbst der Intimus des Kanzlers, der immer so blass und erschöpft aussehende Kulturminister Gernot Blümel, der dafür berühmt ist, zu wichtigen Terminen entweder viel zu spät oder gar nicht zu erscheinen, dem Begegnungen mit Künstlern unangenehm sind und der Theater am liebsten von außen ansieht, offenbar keinen Einfluss auf den Regierungschef mehr hatte.
Makellos wie eine Wachspuppe aus dem Kabinett von Madame Tussaud stand der Bundeskanzler auch am Samstag vor den TV-Kameras. Zugegeben, wem fällt es schon leicht, sein Scheitern eingestehen zu müssen, wenn die ganze Welt zuschaut? Aber war die Strategie des Beraterteams nicht zum Lachen, den Regierungschef als Opfer seiner miserablen Partner zu präsentieren? Ja, er habe in den letzten Monaten vieles hinunterschlucken müssen, sagte der Kanzler. Das ist schon schlimm. Fast könnte man mitleiden, wenn man nicht vergessen hätte, dass es natürlich einzig und allein seine Verantwortung war, all diese dilettantischen, rabiaten und oft sich auch rassistisch gebärdenden Rabauken in die Regierung zu holen.
Vielleicht sollte sich Sebastian Kurz ein Sabbatical vergönnen, sein Studium fertig machen und über die vergangenen 17 Monate ein wenig nachdenken.
Er ist noch da. Aber zuerst noch die Europa-Wahl. Auch in Österreich sind die Wiesen und Felder, die Straßen und Gassen der Städte mit den Plakaten der politischen Fraktionen zugekleistert. Aber obwohl seine politische Karriere beendet ist, grinst er uns auf den Plakaten immer noch entgegen, jener H.C. Strache, der durch seine rechtsextreme Vergangenheit diskreditiert war und nur aus dem ehrgeizigen Kalkül eines unerfahrenen Politikers zumVizekanzler werden konnte. Keine Sorge, die auf den Plakaten angekündigten Auftritte des ehemaligen FPÖ-Chefs werden nicht mehr stattfinden. Und das ist auch gut so.
Pessimismus außer Kraft setzen
Was könnte aus Europa Schönes werden, dachten wir an diesem strahlend schönen Samstag im Mai, wenn ein solches Desaster auch der AfD, den Parteien Salvinis, Orbáns, Le Pens und allen anderen antidemokratisch gesinnten Fraktionen dieses Kontinents beschieden wäre? Die pessimistischen Phantasien für unseren Kontinent, alle besorgniserregenden Erfahrungen, dass die Regierungen von Russland, China und den USA Europa seit Jahren spalten und die Einigkeitsbestrebungen systematisch zerstören wollen, waren an diesem Samstag für einige Stunden außer Kraft gesetzt. Und jetzt soll einmal die Vorstellung, dass die autoritären, Menschenrechte verachtenden Bewegungen sich selbst zertrümmern, noch ein klein wenig andauern.
Klemens Renoldner, geb. 1953, österreichischer Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, war Gründungsdirektor des „Stefan Zweig Zentrums“ der Universität Salzburg, das er von 2008 bis 2018 leitete.
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