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Time to say goodbye. Simon Rattle, geboren 1955 in Liverpool, trat sein Amt 2002 an. Nun verlässt er das Orchester.
© Monika Rittershaus

Berliner Philharmoniker: Das Ende der Ära Rattle

Nach 16 Jahren hört Simon Rattle als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auf. Ein Abgesang.

Wann ist es eigentlich passiert? Wann ist der letzte Rest Schwarz aus Simon Rattles Locken gewichen? Am 7. September 2002, als er das Chefdirigentenamt bei den Berliner Philharmonikern antrat, war seine Mähne jedenfalls noch grau meliert. Resultierte der finale Farbverlust aus dem Angriff des Journalisten Axel Brüggemann, der im April 2006 behauptete, Rattle würde den traditionsreichen deutschen Klang des Orchesters zerstören, weil er ein „Globalisierer“ sei, „ein Mann ohne Eigenschaften“, dessen Interpretationen sich anhören „wie ein verkrampftes Anders-Machen-Wollen“.

Die Anschuldigungen lösten eine Grundsatzdebatte aus, die sich über Monate hinzog – und an deren Ende die Erkenntnis stand, dass keinesfalls ein „neuer Karajan“ her musste, der mit auratischer Unnahbarkeit und geschlossenen Augen Klassik als Religionsersatz zelebriert. Sondern dass Simon Rattle genau der Typus Künstler ist, den die Berliner Philharmoniker brauchen, um auch im 21. Jahrhundert Weltspitze zu bleiben. Und den sich die Musikerinnen und Musiker genau darum ausgesucht haben. Weil es zur DNA der basisdemokratisch organisierten Musikervereinigung gehört, sich selber permanent herauszufordern.

Darum votierte die Mehrheit gegen die Nummer-Sicher-Variante mit dem allseits verehrten Daniel Barenboim und entschied sich stattdessen für den Weg ins Offene mit Sir Simon. Er riss den stilistischen Horizont der Berliner dann auch radikal auf, mit viel zeitgenössischer Musik, mit der Aufführung von Mozart-Opern, die das Orchester noch nie gespielt hatte, mit seiner Liebe zu Haydn, Janacek und Sibelius, zum französischen Impressionismus und zu den rhythmischen Raffinessen eines Igor Strawinsky.

Hier ist der Dirigent nie der Boss

Vielleicht aber war es ja auch eben jener Orchestergeist, der Rattles Haare in Berlin bald schlohweiß werden ließ. Immer wieder hat der Dirigent zwar in Interviews hervorgehoben, wie großartig es ist, dass die Philharmoniker keine Befehlsempfänger sind, sondern jede Interpretation gedanklich nachvollziehen wollen und deshalb „lieber länger proben, um herauszufinden, warum sie etwas so oder so machen sollen“. Diese Geisteshaltung aber schließt eben auch die Möglichkeit ein, dass sie die vom Dirigenten vorgeschlagene Stückdeutung ablehnen.

In der aktuellen Ausgabe des Philharmoniker-Magazins beschreibt Simon Rattle den Grundkonflikt mit britischer Doppeldeutigkeit, Ja, dieses Orchester brennt – doch genau darum dürfe man ihm nicht zu nahe kommen. Lodernde Leidenschaft für die Sache, flammendes Engagement im Spiel – was Dirigenten bei anderen Ensembles oft mühevoll einfordern müssen, gehört hier zum Selbstverständnis. Aber diese Musikerinnen und Musiker sind zugleich auch Feuerquallen. Und der Dirigent ist hier folglich nie der Boss. Nicht einmal ein primus inter pares, sondern ein Sparringspartner. „Sie sind wie die Meistersinger: eine Gilde“, weiß Rattle. Und ermahnt sich und seine Kollegen: „Wir sollten niemals vergessen, dass wir zu dieser Gilde nicht gehören. Wir dürfen dabei sein, wir dürfen teilhaben.“

Herbert von Karajan habe ihm das übrigens bestätigt. Selbst für den maestro assoluto war es in den ersten Jahren mit den Philharmonikern unglaublich schwer, „das Orchester dazu zu bringen, irgendetwas anders zu machen“, erzählt Sir Simon gerne. Um sofort hinzuzufügen: „Wenn es aber funktioniert, dann passiert Außergewöhnliches.“

Die Glücksabende in der Ära Rattle

Und es gab in der Ära Rattle einige solcher Glücksabende. Das ausgelassene, fröhliche Silvesterkonzert mit Bernsteins „Wonderful Town“-Musical gehört dazu, eine zündende „Carmina Burana“, Holsts „Planeten“, bereichert um Neukompositionen, viele Abende mit Werken von Robert Schumann, den Rattle spät für sich entdeckte, außerdem Karlheinz Stockhausens „Gruppen“ im Hangar des Flughafens Tempelhof, und nicht zuletzt Wagners „Parsifal“ bei den diesjährigen Osterfestspielen in Baden-Baden.

Schaut man in die Statistik, überrascht es einen, dass bei den meistgespielten Werken der Philharmoniker unter Rattles Leitung Brahms’ 2. Sinfonie an erster Stelle steht, mit 34 Aufführungen, gefolgt von Beethovens Neunter mit 26 Aufführungen. Beide Komponisten tauchen auch auf den weiteren Top-10-Plätzen wiederholt auf. Was an der enormen Tourneetätigkeit der Philharmoniker liegt. Im Ausland wollen die Veranstalter von dem Spitzenorchester eben am liebsten die Klassiker des nationalen Kernrepertoires hören. Auch wenn sich Rattle lange mit Brahms schwergetan hat, auch wenn er mit seinen Beethoven-Interpretationen nicht wirklich Neuland betrat.

Wichtiger für die stilistische Wendigkeit, die sich die Berliner seit 2002 erarbeitet haben, waren die Abende mit unerhörten, ja geradezu tollkühnen Programmen in der heimischen Philharmonie. Geistig erfrischt und aufs Intelligenteste angeregt, ging man beispielsweise am 20. Februar 2013 in die Pause – ohne sich entscheiden zu können, ob nun die Begegnung mit Henri Dutilleux „Métaboles“ von 1964 oder mit Witold Lutoslawskis Cellokonzert von 1970 spannender gewesen ist. Anschließend ereignete sich bei Schumanns 2. Sinfonie einer jener magischen Momente, die Rattle mit der Formulierung „Wir können fliegen“ zu fassen versucht. Weil sich tatsächlich alle einig sein können in dieser Truppe von selbstbewussten Individualisten und dann wie ein Vogelschwarm in ein und dieselbe Richtung streben.

Mit Sacre du Printemps beginnen die Education-Projekte

Das signature piece der Ära Rattle aber ist Strawinskys „Sacre du printemps“. 21 Mal haben die Philharmoniker und ihr Chef sich in den Strudel der archaischen Rhythmen und leuchtenden Klangfarben dieses Schlüsselwerks des 20. Jahrhunderts gestürzt, vor allem in den ersten, den Flitterjahren ihrer Beziehung. Die berühmteste dieser Aufführungen ist in einem Kinofilm festgehalten. Zuerst waren Thomas Grube und Enrique Sanchez Lansch nicht sonderlich begeistert von Rattles Vorschlag, mit ihren Kameras ein Jugendtanzprojekt zum „Sacre“ zu begleiten. Was sollte schon herauskommen, wenn sich 200 Kids aus Problemschulen mit komplexer russischer Ballettmusik herumplagen? Doch Rattles Überzeugung, dass Klassik für jedermann da sein sollte, beeindruckte sie. Und dann gelang es dem Choreografen Royston Maldoom tatsächlich, die Teenager dazu zu bewegen, ihre Kreativität freizusetzen, an sich zu glauben und rauszugehen auf die Bühne der Arena Treptow, um zur Begleitung der Berliner Philharmoniker zu tanzen.

Eine Million Menschen sahen den Film „Rhythm is it“. Die Idee der „Education“, die Simon Rattle aus seiner Heimat mitgebracht hatte, wurde zum Innovationsmotor für die Jugendarbeit aller Orchester im deutschsprachigen Raum. Und auch die Philharmoniker selber machten sich das Konzept zu eigen, zogen los in die Schulen, veranstalteten Workshops, deren Ergebnisse dann im Foyer der Philharmonie präsentiert wurden.

Das Image der Philharmoniker hat sich gründlich gewandelt

Mit den Education-Projekten, dem Streaming-Portal der Digital Concert Hall, dem Schülerorchestertreffen oder auch den Freiluftkonzerten auf dem Kulturforum hat sich das Image der Philharmoniker seit 2002 gründlich gewandelt, vom Elitären zum Weltoffenen, vom Musealen zum Diversen. Ohne dass dafür die geringsten Abstriche bei der Ernsthaftigkeit, der Intensität der musikalischen Arbeit gemacht werden mussten, wie die jüngste Veröffentlichung des orchestereigenen Labels zeigt. Fünf CDs, eine Blu-Ray-Disc und ein opulent bebildertes Beibuch dokumentieren die letzte gemeinsame Asien-Tour im November 2017. Was da am Ende der Reise in der Tokioter Suntory Hall mitgeschnitten wurde, es sind durchweg Referenzaufnahmen.

Die Philharmoniker spielen wie elektrisiert, schaukeln sich gegenseitig hoch, der Hörer spürt das Knistern auf der Bühne, das Klangbild hat eine Tiefe, in die man förmlich hineingreifen kann. Ob Unsuk Chins akustische Wimmelbilder für Virtuosenensemble, ob Brahms’ Vierte, die ganz unaufgeregt in nobler Schönheit erblüht, ob Strawinskys „Petruschka“-Ballettmusik, bei der sich akrobatische Beherrschung und geschmeidige Beweglichkeit der Musikerinnen und Musiker zu Rattles Ideal verbinden, nämlich die Musik präzise und locker tanzen zu lassen: Hier wird hörbar, was der Dirigent und die Philharmoniker in 16 Jahren erreicht haben.

„Vieles, was man für gewöhnlich physisch anbietet, funktioniert hier erst, wenn Orchester und Dirigent ein Werk so gut kennen, dass sie improvisieren können“, hat Simon Rattle einmal in einem Interview gesagt. „Bei jedem anderen Orchester gibt es einen Punkt, wo sich nichts mehr weiterentwickelt – hier aber geht immer noch etwas.“

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