Panorama: „Rhythm is it“ bleibt im Blut
Der Musikfilm zeigte Schüler bei Tanzproben mit den Philharmonikern. Das Projekt hat das Leben von Martin und Olayinka verändert
Überraschungen lauern überall. „Ich saß in der Uni und wollte eine Klausur schreiben“, sagt Martin, „da sprach mich mein Tutor an. Ich käme ihm bekannt vor, ich sei doch der Martin aus dem Film.“ Für so eine Ablenkung kurz vor der Klausur hatte der Bioinformatik-Student aber wirklich keinen Nerv. Drei Jahre ist es her, dass die Kamera Martin Eisentraut für „Rhythm is it“ nicht von der Seite wich. Noch läuft der Film in vielen Ländern. Auch den jungen Afrikaner Olayinka Shitu begleitete das Kamerateam der Produktionsfirma Boomtown Media bei den Proben. Was ist aus den Protagonisten des einfühlsamen Dokumentarfilms über die Begegnung von 250 Kindern und Jugendlichen mit der Musik Igor Strawinskys und den Berliner Philharmonikern geworden?
Wir verabreden uns im Märkischen Viertel. In der Turnhalle des Jugend- und Kulturzentrums Atrium. Hier trainiert eine der Tanzgruppen für das aktuelle Tanzprojekt der Philharmonie: Wieder Strawinsky, wieder gibt es eine Aufführung in der Treptower Arena, diesmal auch mit Senioren. Aber jetzt ist es nicht das Frühlingserwachen, das die Amateurtänzer mit Profis des „Education-Projekt“ der Philharmonie einstudieren, sondern das klassische Märchen vom „Feuervogel“.
Turnhallen-Getrappel, Stimmengewirr, Schweißgeruch. „Lasst die Musik nicht eure Energie rauben“, ruft die zarte Frau mit den Locken auf Englisch, „seid immer einen Tick schneller als sie.“ Auch Choreographin Suz Broughton ist beim mittlerweile dritten Tanzprojekt für junge Menschen mit Philharmoniker- Chef Sir Simon Rattle wieder dabei. Das Oberstufenzentrum Bekleidung und Mode macht die Kostüme, entworfen haben sie Studenten der Universität der Künste. Viele Schulen haben sich beworben, sozial benachteiligte wurden berücksichtigt. Auch Jugendliche von der Heinz-Brandt-Hauptschule machen wieder mit. Und Olayinka.
Konzentriert beobachtet der 18-Jährige aus Nigeria die Bewegungen von Tanzlehrer Volker Eisenach: „Rechts, links, rechts, drehen, Schritt und Sprung!“ Sechs Stunden Proben jeden Sonnabend, wieder ein Vierteljahr lang. „Dieses Mal macht es mir noch mehr Spaß. Die Leute sind ernsthafter dabei“, sagt Olayinka. Man muss sich noch ein wenig Mühe geben und geduldig zuhören, um den jungen Schwarzen zu verstehen. Aber er hat sein Deutsch merklich verbessert.
Damals, bei den Proben für „Sacre“ war der Vollwaise 15 Jahre alt, erst ein halbes Jahr in Berlin und konnte kaum Deutsch. „Als ich hierher kam, war ich ganz enttäuscht. Ich dachte, Weiße könnten alle Englisch sprechen“ – dieser Satz von ihm aus „Rhythm is it“ ist noch vielen Zuschauern in Erinnerung. „Dass ich damals mittanzen durfte, hat mir den Einstieg in das Leben hier erleichtert, ich habe Freunde kennen gelernt und die englischen Anweisungen wohl mit als einziger verstanden“, sagt Olayinka während der Probenpause.
Mit „Rhythm is it“ haben die Regisseure Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch die emotionale Entdeckungsreise von Olayinka und all den anderen dokumentiert, die vorher mit Klassik nichts anzufangen wussten. Der Film ist eine Liebeserklärung an die Musik, das Leben, die Selbstentdeckung, die Menschen. Und ein Appell gegen Schubladen-Denken. „You can change your life in a dance class“ lautet – etwas pathetisch – der Untertitel. Und doch trifft er auch auf den jungen Charlottenburger zu. Während des Projektes „Le Sacre du Printemps“ besuchte Olayinka eine Hauptschulförderklasse. Heute geht er in die 10. Klasse der Alfred-Wegener-Realschule in Dahlem. „Ich habe viermal die Woche Deutsch-Nachhilfe“, sagt der 18-Jährige. Früher lebte er in einer betreuten Jugend-WG, inzwischen führt er einen eigenen Haushalt. Seit „Sacre“ geht Olayinka zum Tanztraining, sonntags in den Gottesdienst der „Berlin International Church“. Privat hört er gern Klassik, Eminem und Bob Marley. Wenn Olayinka fertig ist mit der Schule, will er Informatiker werden. Oder Schaupieler. „Ich suche aber einen Informatiker-Ausbildungsplatz.“ Noch heute bekommt Olayinka Mails von Filmfans.
Dann sieht er Martin in der Menge. Die beiden fallen sich in die Arme. Drücken sich. „Ich habe eine Mozart-Dokumentation gesehen, das war großartig“, sagt der junge Schwarze zu Martin. Die „Rhythm-is-it“-Protagonisten haben sich lange nicht mehr gesehen. „Anfangs haben wir uns ein paarmal getroffen, so ein Projekt verbindet“, sagt Martin. Von einer anderen Hauptdarstellerin, Marie, weiß er, dass sie ein Kind bekommen und die Schule abgebrochen hat.
Für Martin ist „Rhythm is it“ Vergangenheit. Sagt er. Wenn der 23-Jährige erzählt, ist das Leuchten in den Augen wieder da. Der damals 19-Jährige aus Rathenow war über eine Freundin zum Projekt gekommen. Tanzstunden hatte er schon hinter sich. „Nach der Konfirmation schnappt man sich ’ne Freundin und geht in die Tanzschule.“ Aber so intensiv, so hautnah wie während der „Sacre“-Proben hatte Martin noch niemanden an sich herangelassen. „Ich weiß nicht, wie es aussieht, ich sehe es ja nur von innen. Aber ich weiß, dass es sich gut anfühlt“, hatte Martin vor der Kamera gesagt.
Körperliche Nähe zuzulassen, das fiel dem jungen Mann, der bei Begrüßungen ungern die Hand gab, schwer. Doch auch das ist Vergangenheit. „Ich bin offener geworden. Für alles im Leben.“ Noch heute schwärmt Martin für „unseren wunderbaren Choreographen Royston Maldoom“. Dass er dank seines Zuspruchs mitunter über eigene Grenzen ging, habe ihn bis heute geprägt. „Das war eine intensive Selbsterfahrung, die mir großes Selbstvertrauen gegeben hat. Ich mache heute das, was ansteht.“ Im Studium bedeutet das, sich mit Proteinmassen auseinander zu setzen. „Spannend.“ Im Alltag heißt es, bei der Wohnungssuche nicht zu verzweifeln. „Ich hätte gern eine helle Ein-Zimmer-Wohnung in Friedrichshain. Aber da werden einem Löcher angeboten ...“
Auch in der neuen Wohnung wird Martin ab und an „Le Sacre du Printemps“ auflegen. „Ich habe mir eine Aufnahme besorgt, die Strawinsky selbst dirigiert.“ Der 23-Jährige mag Musik, „bei der man nichts anderes nebenbei macht. Nur zuhören“. Sich selbst auf der Leinwand zu sehen, auch das war für den 23-jährigen Friedrichshainer eine ungewöhnliche Erfahrung. „Das ist ja die Draufschau, so wie mich andere sehen, das bringt einen weg von der Egozentrik.“ Anfangs hat sich Martin ins Kino gesetzt, ganz hinten rein, und hat die Reaktionen der anderen beobachtet. Wenn ihn auf der Straße jemand erkennt, ist er immer noch „ein wenig konsterniert“. Die Leute stellen immer eine Frage, sagt er: Ob er noch tanze.
Ja, bis vor drei Monaten ging Martin in die No-Limit-Tanzschule. Vielleicht fängt er ja wieder an, sagt er, und lässt den Blick durch die Turnhalle schweifen. „Man hat eine ganz andere Körperspannung. Da fehlt mir jetzt was.“ Eigentlich wollte auch Martin beim aktuellen Tanzprojekt der Philharmonie dabei sein. Doch er hat sich im Timing geirrt. „Ich dachte, das Training startet im April.“ Da war er jetzt doch überrascht.
Annette Kögel
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