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Simon Rattle dirigiert am 19.6.2018 die Berliner Philharmoniker
© Monika Rittershaus/Berliner Philharmoniker

Simon Rattle: In aller Freundschaft

Letzte Chef-Visite in der Philharmonie: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker interpretieren Gustav Mahlers 6. Symphonie

Wenn man sagt, ein Kreis schließt sich, dann signalisiert man damit sein Einverständnis zum großen Werden und Vergehen des Lebens. Simon Rattle hat für sein letztes reguläres Konzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker jenes Werk ausgewählt, mit dem er 1987 vor dem Orchester debütierte. 32 Jahre alt, die gewaltige Partitur von Gustav Mahlers 6. Symphonie im Koffer, überlässt ihn ein Berliner Taxifahrer vor dem Haupteingang der Philharmonie seinem Schicksal. Es ist ein typischer Berliner Novembermorgen, grau, nass und kalt. Und der Debütant mit den wilden Locken findet den Bühneneingang nicht, fürchtet, zu spät zur Probe zu kommen.

Schließlich umrundet Rattle den gerade erst eröffneten Kammermusiksaal und steht pünktlich und nervös vor den Philharmonikern. Er beschließt, bis zur ersten Probenpause gar nichts zu sagen, nur Musik zu machen. Und dann passiert es: „Es war, als würde ich meine Stimme finden“, beschreibt Rattle in der aktuellen Ausgabe des Philharmoniker-Magazins „128“ die Magie der ersten Begegnung. „Ich war doch nur ein seltsamer junger Mann mit sehr vielen Haaren auf dem Kopf. Aber das Orchester war unglaublich kooperativ. Und sehr freundlich und humorvoll.“

1987 debütierte Rattle bei den Philharmonikern mit Mahlers Sechster

Das Eis ist gebrochen, das Debüt, zufällig genau zwischen Konzerten von Karajan und Abbado gelegen, wird zum Erfolg. Roman Hinke, Kritiker des Tagesspiegels, urteilt danach über Rattle: „Seine – man möchte sagen – kaltschnäuzige Art, bei röntgenhafter Transparenz das symphonische Chaos ohne Wenn und Aber umzusetzen, evoziert ein Mahler- Bild von radikaler Modernität.“ Man verabredet sich für ein Wiedersehen, dem weitere folgen. Zwölf Jahre später wählen die Philharmoniker Rattle zu ihrem nächsten Chef. Auch 1999 dirigiert er Mahler bei ihnen, die Zehnte in der Aufführungsfassung von Deryck Cooke. 2002 übernimmt er dann den Stab von Claudio Abbado – und dirigiert zum Antritt wieder Mahler, diesmal die populärere Fünfte. Leidenschaft, Energie im Übermaß, Schweiß und gründlich durchgerüttelter Jubel.

Und nun, nach 16 Jahren als Chef, nimmt Rattle seinen Abschied von den Philharmonikern mit dem Werk, das ganz am Anfang ihrer gemeinsamen Reise stand. Am ersten Pult sitzt wie 1987 Konzertmeister Daniel Stabrawa, die erste Oboe spielt Jonathan Kelly, der diese Position schon in Birmingham unter Rattle innehatte. 80 letzte Minuten über letzte Dinge beginnen, ein gewaltiges Marschieren in die Katastrophe, die große Verneinung angesichts eines unergründlichen, feindlichen (Klang-)Universums.

Dunkel glimmen die Bassstimmen durch den Saal

Die Bogen sausen auf die Saiten nieder, und es klingt wie Flügelschlagen. Wenders’ „Himmel über Berlin“ lief in den Kinos, als Rattle in der Philharmonie debütierte. Dunkel glimmen die Bassstimmen durch den Saal, die Mahler in allen Orchestergruppen verteilt hat. Rattle wirkt gelassener, als man ihn gerade bei Mahler kennt, seine rhythmische Souveränität kommt dadurch noch stärker zum Ausdruck: Was für ein magnetischer Dirigent, wenn er nicht denkt, überall nachschärfen zu müssen.

So kommt es im Andante zu wunderbar beseeltem Orchestergesang, zu einem Sonnenuntergang, wie ihn Brahms nicht zarter hätte fassen können. Überhaupt: Während Mahlers Sechste eigentlich Idyllen ad absurdum führt und mit Akribie zerstört, was sie mit Furor erschafft, stellt sich beim Hörer an diesem Abend ein seltsam gegenläufiger Effekt ein. Rattle überlässt den musikalischen Höllensturz seinem Nachfolger Kirill Petrenko. Im allgemeinen Kollaps stellt er das heraus, was gewachsen ist: Klanglust, die das Geräuschhafte umarmt, körperbetonte Bässe, rhythmisches Feuer. „Thank you, Sir Simon“, signalisiert ein kleines Plakat in Block E. „Sie bleiben tief in meinem Herzen“, versichert Rattle seinem Publikum und reicht seine Blumen weiter an Madeleine Carruzzo, die auch bei seinem Debüt Geige spielte.

Rattle verlässt die Philharmoniker, wie sie ihn einst begrüßt haben: sehr freundlich und humorvoll. Und so gelingt es ihm tatsächlich, den Kreis zu schließen, allen Missverständnissen und Enttäuschungen auf dem Weg zum Trotz. Ein großzügiger Abschied.

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