"Alles steht Kopf" von Pixar: Das Chaos-Kommando
„Alles steht Kopf“ aus den Pixar-Studios stürzt sich in das Hirn einer Elfjährigen. Eigentlich ist es ein Animationsfilm für Erwachsene – eine Fantasie wie im Drogenrausch.
Das Leben der elfjährigen Riley gerät völlig aus dem Gleichgewicht, als sie mit ihren Eltern vom beschaulichen Minnesota nach San Francisco zieht. Alles, was bisher gut und richtig war, kommt in Unordnung: Statt im Haus mit Garten wohnt die Kleinfamilie im Reihenhaus, die beste Freundin findet allzu rasch eine Ersatzspielkameradin, der Umzugswagen mit dem Hausrat ist verschollen, der erste Tag in der Schule wird zum Desaster der Peinlichkeit – und auf der labberigen Lieferpizza liegt Brokkoli. Igitt!
Das präpubertäre Außenwelt-Drama ist jedoch nur die Rahmenhandlung des neuen Pixar-Films „Alles steht Kopf“, denn die eigentlichen Akteure befinden sich in Rileys Kopf. Hier bemühen sich die Personifikationen der fünf Gefühle Freude, Kummer, Angst, Ekel und Wut darum, auf die Veränderungen in Rileys Leben angemessen zu reagieren.
Normalerweise bedienen die fünf in selten einträchtigem, aber meist zu konstruktiven Ergebnissen führendem Miteinander eine retrofuturistische Kommandozentrale, mit denen sie Rileys Bewusstsein steuern. Doch durch eine Verkettung von unsachgemäßer Bedienung und panischer Überreaktion werden ausgerechnet die zentralen Emotionen Freude und Kummer aus dem Leitstand katapultiert. Während Freude, hyperaktiv und zwangsoptimistisch, und Kummer, antriebsschwach und von Selbstzweifeln gequält, in den verwinkelten Weiten von Rileys Gehirn den Rückweg suchen, richten die verbliebenen Affektgefühle Ekel, Angst und Wut in der Zentrale ungewollt immer mehr Chaos an.
Man wollte die direkte Konkurrenz zu den "Minions" vermeiden
Eigentlich ist der globale Kinomarkt im Jahr 2015 synchronisiert. Das bedeutet, dass die großen Blockbuster in allen maßgeblichen Kinoländern annähernd zeitgleich starten – hauptsächlich, um die Einnahmeverluste durch im Internet kursierende Raubmitschnitte zu minimieren. So konnten deutsche Kinobesucher die Klonsaurier von „Jurassic World“ oder die Benzinfresser von „Fast & Furious 7“ schon ein paar Tage vor der US-Premiere begutachten.
„Alles steht Kopf“ dagegen kommt in Deutschland nicht weniger als 104 Tage nach dem US-Start in die Kinos. Über die Gründe für diese ungewöhnlich lange Verzögerung gibt es keine offizielle Verlautbarung. Man kann aber davon ausgehen, dass hierzulande die Konfrontation mit dem anderen großen Animationsfilm des Sommers, dem von Universal lancierten „Minions“, vermieden werden sollte. Eine durchaus berechtigte Überlegung: „Minions“ hat, befeuert von einer beispiellosen Marketingkampagne, weltweit über 1,1 Milliarden Dollar eingespielt und ist zum jetzigen Zeitpunkt der – nach Disneys „Frozen“ – zweiterfolgreichste Animationsfilm überhaupt. Auf dem für Animationsfilme nicht einfachen deutschen Kinomarkt steuert er auf die Sieben-Millionen-Zuschauermarke zu.
Pixar hat viel dafür getan, die Gleichung Animation=Kinderkram zu entkräften
Wenn nicht ein mittleres Kinowunder geschieht, dürfte „Alles steht Kopf“ von diesen Zahlen weit entfernt bleiben. Denn obwohl der neue Pixar-Film den Abenteuern der bananengelben Tunichtgute künstlerisch in jeder Beziehung überlegen ist, so hat er doch einen Nachteil: „Alles steht Kopf“ ist trotz seiner absurden Altersfreigabe ab 0 Jahre kein Kinderfilm. Und in kaum einer anderen Kinonation setzen die Verleiher von Animationsfilmen reflexhaft so sehr auf eine überwiegend kindliche Zielgruppe (und ihre Begleitpersonen) wie in Deutschland.
Nun haben gerade die Pixar-Studios in den vergangenen 20 Jahren viel dafür getan, um die Gleichung „Animationsfilm = Kinderkram“ zu entkräften. Schon das Pixar-Debüt „Toy Story“ war 1995 nicht nur der erste abendfüllende computeranimierte Film, sondern schaffte mit seiner ebenso gefühlvollen wie urkomischen Geschichte über beseelte Spielzeuge auch den Spagat, gleichzeitig für Kinder verständlich und für Erwachsene satisfaktionsfähig zu sein.
Eine Kunst, die bei den größten Pixar-Erfolgen, der Clownsfisch-Odyssee „Findet Nemo“ (2003) und der Fortsetzung des Debüts „Toy Story 3“ (2010), nochmals verfeinert wurde. Manche Pixar-Produktionen betonten mehr das Kindliche wie „Cars“ (2006), andere entwarfen komplexe Szenarios wie mit dem luftschiffernden Senior in „Oben“ (2009) und vor allem mit dem Aufräumroboter „WALL-E“ (2008) – in seiner postapokalyptischen Düsternis wohl kein Film, den man Fünfjährigen vorm Zubettgehen zeigen würde.
Der bisher erwachsenste und ambitionierteste aller Pixar-Filme
In den letzten Jahren konnte man den Eindruck bekommen, Pixar wolle Marktanteile zurückgewinnen, die man an die sich mit serieller Animationsware an junge Zuschauer wendende Konkurrenz von DreamWorks („Shrek“), Fox („Ice Age“) und Universal („Ich – Einfach Unverbesserlich“) verloren hatte. Die Fortsetzungen „Die Monster Uni“ (2013) und „Cars 2“ (2011) schienen mehr Wert auf die Verwertbarkeit von Merchandising-Produkten als auf Figurenentwicklung und emotionale Tiefe zu legen. Der Pixar-Touch war zum ersten Mal weg, die Reaktionen enttäuschter Fans fielen verheerend aus. Verschwörungstheoretiker witterten einen stärker werdenden Einfluss des Disney-Konzerns, der Pixar 2006 übernommen hatte. Doch mit dem von Pete Docter, einem der Pixar-Hausregisseure („Monster AG“, „Oben“), inszenierten „Alles steht Kopf“ schlägt das Pendel ganz weit in die andere Richtung aus. Denn dies ist von der Konzeption her zweifellos der erwachsenste und ambitionierteste aller Pixar-Filme.
Aus der bis heute ungelösten Fragestellung der Wissenschaft, wie genau das menschliche Gehirn funktioniert, einen unterhaltsamen Spielfilm zu machen, wäre schon eine beachtliche Leistung. Doch „Alles steht Kopf“ ist viel mehr als das. Die – in zulässiger Vereinfachung neurologischer Erklärungsmodelle – auf fünf reduzierten Manifestationen der persönlichkeitsprägenden Gefühle sind wunderbar entworfene und absolut hinreißend zum Leben erweckte Charaktere. Neben diesen mit einem magischen Glitzern überzogenen Hauptfiguren gibt es kuriose und tragikomische Nebenhelden wie etwa den als Mischwesen aus Elefant, Katze und Delfin angelegten Bing Bong, ein vom Vergessenwerden bedrohter Fantasiefreund aus Rileys Kindertagen.
Fast noch beeindruckender als die Figuren sind aber die Bilder, die das Team um Pete Docter für die Visualisierung abstrakter Vorgänge gefunden hat. Die völlige Freiheit des Entwerfens wurde zu einem Weltbild des Inneren genutzt, das in seiner Fantasie und seinem Detailreichtum über das, was man in den meisten Science- Fiction- Filmen vom Outer Space zu sehen bekommt, weit hinaus geht. Das menschliche Gehirn wird hier zu einem organischen Universum: In endlosen Regallabyrinthen werden die Erinnerungskugeln des Langzeitgedächtnisses aufbewahrt, bis sie von routinierten Aufräumtrupps in gähnende Abgründe des Vergessens befördert werden. Die Traumproduktion ist wie ein Hollywoodstudio organisiert, das abstrakte Denken lockt mit irreführenden Abkürzungen, im Unterbewusstsein lauern Ungeheuer, das Labyrinth der Wünsche sieht aus wie ein Rummelplatz auf einem LSD-Trip.
Und doch würde all die überbordende Fantasie des Films verpuffen, wenn ihr nicht eine glaubwürdige Erzählung gegenüber stünde, die diese visuelle Wucht tragen kann. „Alles steht Kopf“ bekommt immer wieder die Kurve von haarsträubend komischen zu herzzerreißend anrührenden Szenen, führt seine Heldinnen in der realen wie in der inneren Welt durch lange Tunnel der Frustration, fast der Depression, hin zu einem nicht mal kitschigen Finale von überwältigender Emotionalität. Und hat selbst dann noch die Kraft, in einem allerletzten Schwenk noch mal eine neue Perspektive auf das bis dahin Gesehene aufzuziehen. Wenn Sie in einem Film lachen und weinen möchten, dann schauen Sie sich „Alles steht Kopf“ an, gern auch mehrmals. Aber überlegen Sie sich gut, ob Sie wirklich Ihre Kinder mitnehmen wollen.
Ab Donnerstag in 23 Berliner Kinos.
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