Friedens- statt Triumph-Symbol: Das Brandenburger Tor und sein Geheimnis
Lange galt das Brandenburger Tor als preußisches Triumphbauwerk. Dabei war, wie neue Forschung belegt, die heutige Ikone des vereinten Deutschland schon früh ein Symbol des Friedens - und der preußisch-holländischen Allianz.
Ahnte Königin Beatrix, was dieses Bauwerk ihren Vorfahren und ihrem Land bedeutet hat, als sie am 25. April 1991 als erstes Staatsoberhaupt das vereinte Deutschland besuchte? Dass sie beim rituellen Gang durch das Brandenburger Tor etwas davon wusste, ist eher unwahrscheinlich. Denn das Geheimnis des Tors als ursprünglich preußisch-niederländisches Friedenssymbol – und nicht nur als Quadriga-geschmücktes Triumphtor zum Sieg über Frankreich – hat die Historikerin und Kunsthistorikerin Zitha Pöthe erst jetzt gelüftet.
Ihre Anfang Oktober vorgelegte umfangreiche Dissertation legt detailliert dar, warum das Tor gebaut wurde und welche politische Geschichte es erzählt: eine Geschichte über den preußischen König Friedrich Wilhelm II. und seine Schwester Wilhelmine von Oranien, allegorisch dargestellt als Herakles und Friedensgöttin Eirene im Attikarelief „Zug des Friedens“ unter der Quadriga. Erstaunlich daran ist nicht zuletzt, dass bisher niemand dieser Frage nachgegangen war.
Die Geschichte beginnt 1786 in der Republik der Sieben Vereinten Provinzen der Niederlande, die in einer schweren politischen Krise steckt. Die mächtigste Region ist die Provinz Holland mit Amsterdam und Den Haag als Residenzstadt. Sie verweigert dem Erbstatthalter Willem V. aus dem Haus Oranien den Zugang zum Regierungssitz. Willem wirbt Truppen an, um sich durchzusetzen, mit finanzieller Unterstützung Großbritanniens. Seine Gegner, der Rat von Den Haag und die Bürgermeister von Amsterdam, wollen das Erbstatthaltertum beenden. Verbündete finden sie in der bürgerlichen Gruppe der „Patrioten“, die im Geiste der Aufklärung agiert. Amsterdam wird mit getarnten Söldnern und Facharbeitern befestigt, die das Königreich Frankreich schickt. „Alles verdeckte Operationen, wie wir sie heute aus dem Ukraine-Konflikt mit Russland kennen“, sagt Pöthe.
Die Großmächte Frankreich und Großbritannien wollen keinen offenen Krieg. Aber beide haben Interesse an den Niederlanden, sind sie doch auf deren Dienste in den umkämpften Kolonien in Indien angewiesen. Also bahnt sich in den Niederlanden ein Bürgerkrieg an.
Preußen trat als Vermittler auf
Als Vermittler tritt Preußen auf. König Friedrich Wilhelm II. kommt damit einer Forderung von Willems Frau entgegen, seiner Schwester Wilhelmine von Oranien, die gleichberechtigte Erbstatthalterin der Republik der Niederlande ist. Als sie ihrem Bruder eine gemeinsame Allianz mit Großbritannien anbietet und ihn um Truppen bittet, lehnt er allerdings ab. Wenngleich er sich um die Sicherheit seiner Schwester sorgt, fürchtet er den Konflikt mit Frankreich. Erst als im März 1787 klar wird, dass das klamme Frankreich gar keinen Krieg finanzieren kann, denkt man in Berlin anders über Wilhelmines Vorschlag nach.
Wilhelmine ist eine kluge Taktikerin, sie will den Machtkampf ohne kriegerische Mittel gewinnen. Im Juni 1787 bricht sie scheinbar kurz entschlossen mit kleinem Gefolge von Nimwegen nach Den Haag ins holländische Sperrgebiet auf. An der Grenze wird sie gestoppt; ihre Begleiter stellen ihre Wartezeit in Briefen als Gefangennahme dar. Sie will Druck machen: Ihr preußischer Bruder kann jetzt mit Krieg drohen und eben dadurch den Frieden erhalten. Er kann zum einen eine Truppenmobilisierung rechtfertigen und zum anderen für den Bruch des Völkerrechts eine Entschädigung von der Provinz Holland verlangen. In den Verhandlungen über die Anerkennung der Forderung tritt Frankreich als Schutzmacht Hollands auf, man konferiert in Berlin, Versailles, London, Den Haag und Wien.
Joseph II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation stimmt zu - weil er für seine Interessen auf dem Balkan den Rücken frei haben will -, ebenso Großbritannien. Friedrich Wilhelm bietet Versailles einen Friedensvertrag an, lässt dann aber seine Truppen doch vor dem Wintereinbruch in die Niederlande marschieren. „Die Intervention in Holland galt als militärische Expedition zur Bestrafung der Patrioten, die für ihn nichts weiter als Straßenräuber sind“, erläutert Kunsthistorikerin Pöthe.
Am 1. Oktober stehen die Preußen vor Amsterdam. Willem V. kann nach Den Haag zurückkehren. Die Einheit der Republik wird wiederhergestellt, die Patrioten werden entwaffnet, Franzosen mit niederländischen Pässen ausgewiesen. Preußen steht als großer Diplomat und Sieger da.
Ehrentor als Lohn für Gerechtigkeitsliebe
Die „Gerechtigkeitsliebe“ Friedrich Wilhelms, der Ruf seiner Schwester als Friedensvermittlerin: Das muss gefeiert werden. Warum nicht mit einem Ehrentor? Den Staatsvertrag mit Großbritannien beschließen Preußen und die Niederlande im April 1788, er richtet sich gegen Frankreich. Später erkennt Napoleon in der diplomatischen Niederlage Ludwigs XVI. eine Ursache für die Französische Revolution. Dieselbe Aprilwoche nutzt Friedrich Wilhelm, um das Brandenburger Tor zu Ehren der neuen Allianz zu planen.
Preußen, Großbritannien, die Niederlande: „Friedrich Wilhelm dachte langfristig an ein ,großes System des Nordens’, ein Gegen-Kaiserreich mit weiteren Mitgliedsstaaten“, führt Pöthe aus. Mit dem Brandenburger Tor will er seiner Vision ein Denkmal setzen. Und weil Wilhelmine der politische Motor der Allianz war, wird ihr das Modell des Brandenburger Tors feierlich von der Akademie der Wissenschaften in Berlin präsentiert. Am 6. August 1791 wird das von Carl Gottfried Langhans entworfene, noch nicht ganz fertige Tor eingeweiht.
Dessen Gestalt ist Friedrich Wilhelms Idee. Die Zeitgenossen verstehen die Bedeutung einer Nachbildung der „Propyläen des Perikles“ von Athen. Perikles betrieb als Staatsoberhaupt eine kluge Bündnispolitik, er steht für Sieg, Frieden, den Beginn eines goldenen Zeitalters und die Tugend der Mäßigung. Damit will auch Friedrich Wilhelm identifiziert werden.
Karl Wilhelm Ramler, Dichter und Philosoph, entwirft vermutlich im Auftrag des Königs das allegorische Bildprogramm für das Tor, das an die Ereignisse in den Niederlanden erinnern soll. Wer das Lehrbuch „Allegorische Personen zum Gebrauch für bildende Künstler“ (1788) von Ramler liest, kann die meisten Sinnbilder entschlüsseln, sagt Expertin Pöthe. So setze das Relief „Zug des Friedens“ eine noch barocke Bildkomposition im ersten klassizistischen Bauwerk Berlins, im Aufzug rechts mit Herakles, ein, der Referenzfigur Friedrich Wilhelms. Herakles als Gott der Stärke und Gerechtigkeit besiegt die Giganten, die für Chaos und Anarchie stehen, sprich: für Ludwig XVI. und die niederländischen Patrioten.
Die nächste Allegorie mit Spiegel, Schlange und Steuerruder weist auf die Staatsklugheit seiner Handlung hin. Die folgende Figur wiederum trägt ein Liktorenbündel ohne Beil. Sie deutet auf die Ankunft der „Heerführerin“ hin, eine Anspielung auf Wilhelmines Fahrt nach Den Haag, aber auch auf ihren Einzug in Preußen. Da sie ihre eigene Macht aus der ihres Bruders legitimiert, fehlt das Beil.
Friedensgöttin Eirene alias Wilhelmine
Der Freundschaft folgt die Friedensgöttin Eirene alias Wilhelmine im Triumphwagen, die Herakles aus Dankbarkeit mit dem Lorbeer krönen will. Den fruchtbaren politischen Frühling verkündet die nächste Gruppe. Und die abschließenden Personifikationen der Architektur, Bildhauerei, Malerei und Musik deuten auf die Werke, die im nun hoffentlich beginnenden goldenen Zeitalter geschaffen würden. „Die allerletzte Figur ist eine Allegorie der Ode für den vergöttlichten Helden“ – den gleichsam idealisierten preußischen König. Zu sehen ist eine Gestalt mit Schriftrolle und Lorbeer, sie blickt in die Sterne.
Die Kunsthistorikerin plant jetzt auch einen Brandenburger-Tor-Guide, dessen Veröffentlichungstermin noch nicht feststeht. Auch eine Website ist in Arbeit: www.brandenburgertor-guide.de. Dort soll jedes Detail beschrieben und im historischen Kontext erläutert werden. So auch die zu Sinnsprüchen arrangierten Herakles-Reliefs in den Durchfahrten.
Die Fertigstellung der von Johann Gottfried Schadow entworfenen Quadriga verzögert sich bis 1793, zu der Zeit liegt Preußen mit Frankreich bereits im Krieg. Dass Napoleon bei der Eroberung Berlins 1806 die Quadriga mitnahm, um die Niederlage im Kampf um Einfluss in der niederländischen Republik von 1787 zu rächen, erscheint nun in einem neuen Licht. Er wusste um die Bedeutung des Brandenburger Tors.
Im kulturellen Gedächtnis der Deutschen spielt das Tor erst seit diesem Raub der Quadriga und der Rückkehr 1814 eine besondere Rolle. Darüber gerieten die Friedenssymbolik – und nicht die triumphierende Geste – sowie die Freundschaft zur Republik der Niederlande in Vergessenheit. Königin Beatrix hätte bei ihrem Besuch 1991 bestimmt gerne davon gewusst.
Rolf Brockschmidt
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