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Alle sollen tanzen. Boris Charmatz bei einem Workshop zu seiner Choreografie "Levée" auf dem Tempelhofer Feld.
© Jens Kalaene/dpa

Start mit Freiluftspektakel: Chris Dercons Volksbühne beginnt die Saison

Wohl noch nie ist der neue Intendant einer künstlerischen Spielstätte dermaßen beschimpft, beleidigt, angefeindet und geradezu gehasst worden wie der belgische Kulturmanager.

Es herrschte dann selbst in den letzten Tagen der Sommerferien und des sogenannten Sommerlochs keine Ruhe an der Volksbühnenfront. Erst verkündete die Fachzeitschrift „Theater heute“, dass die Volksbühne, also die alte, die Frank-Castorf-Volksbühne, von den Kritikern zum Theater des Jahres gewählt worden sei – was alle hartleibigen Feinde des neuen Intendanten Chris Dercon einmal mehr darin bestätigt haben dürfte, dass auch künstlerisch nun alles den Bach runtergeht und Dercon den über 25 Jahre lang immer wieder erneuerten Castorf-Glamour kaum überstrahlen wird können.

Und schließlich standen vergangene Woche die engagiertesten Anhängerinnen und Anhänger der Castorf-Volksbühne vorm Berliner Abgeordnetenhaus, um Berlins Kultursenator Klaus Lederer zur ersten Etat-Lesung des Kulturausschusses eine Petition mit bislang 40 000 Unterschriften zu überreichen. Darin werden die Abgeordneten gebeten, „der Umformulierung des Volksbühnenprofils im Haushaltsplan nicht zuzustimmen“. Und es wird die Schaffung eines „unabhängigen Expertinnen- und Expertengremiums“ vorgeschlagen, „das die weitere Entwicklung moderierend begleitet und seine Expertise dem Kultursenator und dem Kulturausschuss zur Verfügung stellt.“

Nicht dass diese Petition irgendeine Aussicht auf Erfolg hätte, dass die rot-rot-grüne Koalition trotz der Dercon-Aversionen des Kultursenators noch einmal eine Volksbühnenrolle rückwärts machen würde, dass eines Tages Frank Castorf seinem Nachfolger beratend zur Seite stünde oder die gemäßigten alten Volksbühnenmenschen die Chance zu einer „eigenen Republik“ in der neuen Volksbühne bekämen, wie das Diedrich Diederichsen neulich im Tagesspiegel mal so dahin orakelte – doch allein die Zahl von 40.000 Unterschriften weist daraufhin, wie schwer der Start für den neuen Intendanten und sein Team wird, wieviel Störgeräusche es geben dürfte, wenn die Saison erstmal im Gang ist.

Start an der Nebenspielstätte

Bevor es am 10. November im Haupthaus am Rosa-Luxemburg-Platz losgeht, mit einem Einakter von Beckett, Arbeiten von Tino Seghal und wie unter seligen Castorf-Zeiten dem ganzen Haus als Forum für Kunst, Theater und Sprache, eröffnet die Dercon-Volksbühne die Saison zunächst an der neuen Nebenspielstätte, dem Hangar 5 auf dem Tempelhofer Flughafengelände, mit drei Projekten des französischen Choreografen Boris Charmatz. Am heutigen Sonntag geht es los, von 12 Uhr mittags bis abends um zehn, bei freiem Eintritt, da entwickelt Charmatz zusammen mit knapp 200 Tänzern eine Choreografie. „Fous de danse – Ganz Berlin tanzt auf Tempelhof“ heißt diese Performance, die auch das Publikum gezielt miteinbeziehen und zum Tanzen animieren will, und die Botschaft ist natürlich eindeutig: Kommt zusammen, kommt alle zusammen, auf dass sich womöglich ein paar seit der Verkündung von Dercons Intendanz entstandenen Gräben wieder zuschütten lassen.

Doch man mag kaum glauben, dass das gelingt. Die Veranstaltungen auf dem Flughafengelände dürften nur der erste Beweis für die Old-School-Volksbühnenfraktion sein, dass die neue Volksbühne nichts anderes als eine „Eventbude“ wird, wie einer der griffigsten Anwürfe lautet, dass hier dem Spektakel der Vorzug gegeben wird, nicht der guten alten Avantgarde-Kunst, dass Theater-Kunst in Berlin immer schöner und smarter und immer weniger widerständig wird. Und wenn schon niemand ernsthaft etwas gegen die Tanzkunst eines Boris Charmatz sagen kann, gegen die einer Anne Teresa de Keersmaeker (die beim Start am Sonntag ebenfalls dabei ist), gegen die Situationskunst eines Tino Seghal, dann muss halt das Argument herhalten, dass Dercon mit seinem Fokus auf das Tanztheater dem HAU die Stars wegkauft – und dass von dem nicht zuletzt von Klaus Lederer immer wieder angemahnten Ensemble- und Repertoiretheater, das die Volksbühne bleiben solle, keine Rede mehr sein kann.

Wohl noch nie ist der neue Intendant einer künstlerischen Spielstätte dermaßen beschimpft, beleidigt, angefeindet und geradezu gehasst worden wie der belgische Kulturmanager Chris Dercon, der zuletzt die Tate Modern in London leitete und deren Besucherzahlen gleich um ein Fünftel in die Höhe trieb. Was viel mit eben jener Strahlkraft der Volksbühne zu tun hat, mit der Nonchalance, mit der Tim Renner vor zwei Jahren den Wechsel der Intendanz vorantrieb, gar nicht so sehr mit der Person von Dercon.

Munition im Kampf von Alt gegen Neu

Und wohl noch nie hat sich eine ganze Stadt so genau und intensiv mit dem kommenden Spielplan eines Hauses beschäftigt wie jetzt mit dem der neuen Volksbühne, um auf Seiten der alten Volksbühnenhardliner natürlich festzustellen, ohne dass eine einzige Minute gespielt worden ist: alles Mist. Man braucht schließlich Munition im Kampf von Alt gegen Neu, ewiger Innovation gegen vermeintliche Pseudo-Innovation und auch: von Ost gegen West, gegen das allumfassende Neu-Berliner Gentrifizierungsprogramm.

Dercon helfen da alle Einwände nichts, die Tradition der Volksbühne erhalten und höchstens sachte in eine neue Richtung steuern zu wollen, eben noch interdisziplinärer, mit noch mehr künstlerischen Spielarten, aber eben auch mit 206 von 227 Mitarbeitern seines Vorgängers. Und hilfreich war es gleichfalls nicht im schönsten Kuratorenleersprech nach der Übernahme der Social-Media-Accounts der Volksbühne zu verkünden: „Die Sinne schärfen. Sich ins Detail versenken. Das Gesamte vom kleinsten Teil denken. Lauschen. Flüstern. Klein werden. Raus aus dem Totalzusammenhang. Kommt zusammen!" Das klingt wahrlich eher zum Weglaufen, so wie es Castorf, René Pollesch, Herbert Fritsch und Christoph Marthaler taten, als sie Dercons Anfrage abschlägig beschieden, Stücke von ihnen ins Repertoire der neuen Volksbühne aufzunehmen.

Und trotzdem: Wer sich den Volksbühnenzwist nur von außen anschaut, wer weder mit Castorf noch mit Dercon gewissermaßen Verträge hat, mag sich allein intuitiv auf die Seite des neuen Intendanten schlagen, seine nicht immer substantiellen Aussagen hin, Castorfs Gottgröße her. Nicht nur wegen der vielen Boshaftigkeiten und der Häme, sondern gerade wegen des seltsamen Vorhabens, am ewigen Alten, an der ewigen Alt-Avantgarde festhalten zu wollen.

Verwunderlich ist das alles auch deshalb, weil zwar die Volksbühne sicher nicht mehr die sein wird, die sie mal war, ihr Geist aber in der Stadt weht, an anderen Stätten. Nicht zuletzt Frank Castorf verfolgt ja weiterhin seine Projekte. Und der Geist, damit begründete nicht zuletzt die Suhrkamp-Verlegerin und neue Volksbühnennachbarin Ulla Unseld-Berkéwicz unter anderem den Umzug ihres Verlages von Frankfurt am Main nach Berlin, ist ortlos, braucht keinen festen Sitz. Ihr Verlag wird demnächst mit seinem Verlagssitz an der Torstraße schon dafür sorgen, dass die Nachbarn nicht zuviel eventmäßiges Remmidemmi machen.

Jetzt geht es erstmal in die erste neue Volksbühnensaison, jetzt muss Dercon zeigen, was er kann. ob er in der Lage ist, das Publikum für die neue Volksbühne zu gewinnen. Scheitern als Chance – eine uralte Volksbühnenweisheit.

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