Tanzkünstler Boris Charmatz im Porträt: Aufwärmen für die Eröffnung der Volksbühne
Gesten und Gäste: Boris Charmatz leitet die erste Spielzeit der neuen Volksbühne ein - mit drei Tanzprojekten auf dem Flughafen Tempelhof. Eine Begegnung.
Die Idee klingt verrückt. Fast schon größenwahnsinnig. „10 000 Gesten“ heißt die neue Choreografie von Boris Charmatz, die am 14. September im Rahmen des Programms „A Dancer’s Day“ auf dem Flughafen Tempelhof gezeigt wird. Das Konzept sieht vor, dass keine einzige Geste oder Bewegung wiederholt wird. Die Volksbühne hat eine Uraufführung angekündigt, eine erste Aufführung fand aber bereits im Juli beim Manchester International Festival statt. Der französische Choreograf ist nicht nur ein kluger Kopf, er versteht es auch, seine Arbeiten clever zu vermarkten.
Gleich drei Projekte präsentiert Boris Charmatz zur Eröffnung der neuen Volksbühne auf dem Flughafen Tempelhof. Intendant Chris Dercon hat gute Gründe dafür, dass er Charmatz als ersten ins Rennen schickt. Boris Charmatz ist der Mann, auf den viele fliegen. Die internationalen Festivals reißen sich um den umtriebigen Künstler, der sich auch in der Kunstwelt einen Namen gemacht hat.
Das Tempelhofer Feld wird zum Dancefloor
Aber auch in der Berliner Tanzszene kennt und respektiert man ihn. Charmatz ist gut vernetzt: Er hat mit Anne Teresa de Keersmaeker und Tino Sehghal zusammengearbeitet, die ebenso zum Künstleraufgebot von Dercon gehören. Auch Mette Ingvartsen, die Lebensgefährtin von Boris Charmatz, wird künftig ihre Stücke in der Volksbühne präsentieren.
Nun will Boris Charmatz Berlin zum Tanzen bringen. Bei dem Spektakel „Fous de danse“ am 10. September wird das Feld des Flughafen Tempelhof zum Dancefloor. Das Konzept hat Boris Charmatz schon in Rennes erprobt. Seit 2009 leitet er das Centre choreographique national de Rennes et de Bretagne, das er in das Musée de la danse umgewandelt hat. Ganz Berlin wird sicher nicht mit Boris Charmatz den Neustart der Volksbühne feiern, dazu ist Intendant Chris Dercon zu umstritten. Doch das Projekt mit mehr als 150 Mitwirkenden, Profis und Amateuren, Kindern und Erwachsenen dürfte zahlreiche Berliner und Touristen anlocken. Denn „Fous de danse“ hat etwas von einer riesigen Open-Air-Party, ein Fest zur Spielzeiteröffnung.
Er kennt sich aus mit monumentalen Projekten
Charmatz sucht die Nähe zum Publikum. Er will alle für den Tanz begeistern und am liebsten auch die Massen in Bewegung setzen. Es geht um 12 Uhr mittags los mit einem „Public Warm Up“, das Boris Charmatz selbst leitet. Danach stehen Breakdance und Ballett, türkische Tänze und Werke von Ikonen des zeitgenössischen Tanzes auf dem Programm. Zahlreiche Protagonisten aus der freien Tanzszene Berlins werden teilnehmen. Stargast ist die flämische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, die ihr Solo „Violin Fase“ aus dem Jahr 1982 zu Musik von Steve Reich tanzt und später gemeinsam mit Boris Charmatz einen Auszug aus ihrer Bach-Choreografie „Partita 2“ zeigt.
In allen drei Projekten geht es Boris Charmatz darum, den öffentlichen Raum zu verwandeln, eine temporäre Gemeinschaft zu bilden. Er will damit experimentieren, wie eine „choreografische Versammlung“ aussehen könne. „Der Tanz ist ein sehr gutes Medium im öffentlichen Raum“, sagt er. „Du brauchst noch nicht mal eine Bühne. Er ist ein Medium zwischen den Menschen, zwischen den durchlässigen Körpern.“
Er kennt sich aus mit solch monumentalen Projekten. Er hat schon den Papstpalast in Avignon, das Atrium des New Yorker MoMA, die Bochumer Jahrhunderthalle, die Turbinenhalle der Tate Modern in London, das ehemalige Bahndepot Mayfield in Manchester bespielt. In Berlin hat er 2014 auf dem Gelände des Sowjetischen Ehrenmals „20 Dancers for the XX Century“ realisiert.
Charmatz will zeitgenössischen Tanz zugänglicher machen
Boris Charmatz ist Tänzer, Choreograf, Denker, Pädagoge und Vermittler in einem. Er will den zeitgenössischen Tanz zugänglicher machen. Das Programm „A Dancer’s Day“ folgt dem Tagesablauf eines Tänzers. Aufwärmen, Proben, Ruhepause, Performance, Party. Die Zuschauer können selbst Sequenzen aus der neuen Choreografie von Boris Charmatz erlernen oder zusammen mit den Tänzern eine Mahlzeit einnehmen. Der Höhepunkt ist die Aufführung der „10 000 Gesten“. Das Stück für 25 Tänzer feiert die Einzigartigkeit jeder einzelnen Bewegung. „Ich liebe Chaos“, entgegnet Charmatz auf die Frage, wie er das Stück erarbeitet hat.
Nicht nur ikonische Gesten der verschiedenen Tanzstile, sondern auch alltägliche Gesten werden aufgeführt. Gesten am Rande des Nicht-Tuns kommen vor sowie absurde Gesten, Abfall-oder Wegwerfgesten. Letzte Gesten. Kaum aufgeführt, verschwinden diese Gesten wieder. Für Charmatz geht es in dem Stück aber nicht nur um Verschwendung. „Etwas vergeht und wir akzeptieren, dass es vergeht. Das ist etwas sehr Emotionales, weil es eng mit der Erfahrung von Verlust zu tun hat. Dieses Gefühl von Vergänglichkeit ist für mich zentral für das Stück.“
Die Angst im öffentlichen Raum verdauen
In der Berlin-Version von „Danse de nuit“ zetteln sechs Tänzer dann einen nächtlichen Aufruhr an. Die Performer kombinieren Hardcore-Tanz auf hartem Betonboden mit manischen Sprechakten und muten wie ein Guerilla-Trupp an. „Wir versuchen, die Ängste im öffentlichen Raum zu verdauen, in unsicheren Zeiten wie diesen“, sagt Charmatz.
Sein Vertrag in Rennes läuft im nächsten Jahr aus. Mal sehen, wie stark er sich danach an der Volksbühne engagiert. Charmatz hat natürlich mitbekommen, dass das Dercon-Team massiv angefeindet wird. Er betont, dass seine Arbeiten gut zur Idee der Volksbühne passen. „Ich hoffe, dass die neue Volksbühne eine breitere Idee davon entwickelt, was Tanz sein könnte, was Kunst sein könnte, und die Grenzen zwischen den Disziplinen durchlässiger macht.“ Wenn Boris Charmatz nicht nur ab und zu hierher jettet, wäre er ein Gewinn für die Berliner Kultur.
Volksbühne in Tempelhof: „Fous de danse“ am Sonntag, 10.9., von 12 bis 22 Uhr, Eintritt frei. „A Dancer’s Day“ Premiere am 14.9., 16 Uhr. „Danse de nuit“ am 21.9., 21 Uhr, Hangar 5.
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