Berlin Festival in Treptow: Chips, Sex und Zahnlücken
Von Techno bis Hip-Hop: Das Berlin Festival startet im Arena Park mit GusGus, Beatrice Eli und Ratking. Und Westbam gibt den Märchenonkel.
Der Märchenonkel hat Verspätung. Macht aber nichts, draußen ist eh noch nicht viel los. Also warten etwas mehr als fünfzig Leute aus drei Generationen geduldig, bis sich der rundliche Mann mit dem Basecap in den Cocktailsessel gepresst hat, seine schwarze Lesebrille auf der Nase sitzt und er das dicke Buch auf den Oberschenkeln ausbalanciert hat.
Heimspiel für Westbam auf dem Berlin Festival. Er liest aus seiner kürzlich erschienenen Biografie „Die Macht der Nacht“, die er später als „,Buddenbrooks‘ der elektronischen Tanzmusik“ bezeichnen wird. Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber eine schöne Techno-Märchenstunde beschert er dem Publikum im Arena Club allemal. In freundlichem Gute-Nacht-Geschichten-Tonfall trägt Westbam Anekdoten über den Berliner Ecstasy-Markt der frühen Achtziger vor, berichtet von seinem musikalischen Erweckungserlebnis zwischen Lederschwulen im Metropol. Applaus für den 50-jährigen DJ, der hier ein paar Stunden später auch noch auflegen wird. Als Nächstes läuft im Arena Club aber die tolle Doku „B-Movie – Lust & Sound in West-Berlin“ – der junge Westbam hat darin ein paar witzige Auftritte.
Lesung und Filmlounge gehören zu den Neuerungen des Berlin Festivals, dessen letzte Ausgabe erst vor knapp acht Monaten stattgefunden hat. Damals noch im Rahmen der mittlerweile abgeschafften Berlin Music Week hatte sich das vom Flughafen Tempelhof in den Treptower Arena Park umgezogene Festival bereits neu ausgerichtet. Das setzt sich mit einer noch stärkeren Konzentration auf elektronische Musik und Berliner Künstler fort. So hat man am ersten Abend beim Schweifen durch die verschiedenen Locations zunächst das Gefühl, dass eigentlich überall Laptop-DJs spielen. Auf große Namen wurde dabei abseits von Westbam und Fetisch verzichtet.
Bleibt Zeit, sich mit der nervigsten Innovation der Festivalmacher herumzuschlagen: dem Aufladen des Chips am Eintrittsarmbändchen. Weil an den Bars und Essensständen nur mittels Bargeldlos-System bezahlt werden kann, muss das Publikum sich in die langen Schlangen vor den Auflade-Countern einreihen. Beim Getränkekauf hängt man dann mit dem Handgelenk über dem Plastikpad, hoffend, dass es funktioniert und der Credit reicht. Prima fürs Personal, das nicht mehr rechnen und mit Münzen hantieren muss, unpraktisch fürs Publikum.
Zu den begrüßenswerten Veränderungen zählt, dass die Arena nun auch am hinteren Ende durch zwei große Tore betreten werden kann, wodurch die Massenschiebereien an der Hallenseite weniger geworden sind. Die dort beim letzten Mal aufgestellten Toiletten befinden sich jetzt eine Ecke weiter, was ebenfalls mehr Raum im Übergangsbereich schafft.
Als Location ist der kleine Arena Club neben dem Glashaus hinzugekommen. Um Mitternacht beim Set von Fetisch, der in den Neunzigern mit dem Duo Terranova bekannt geworden ist, herrscht hier große Enge. Euphorie will zu den druckvollen Beats und der minimalistischen Light-Show allerdings noch nicht recht aufkommen: Zu viele Leute sind mit Rein- und Rausgedrängel beschäftigt. Also rüber zur gut besuchten Hauptbühne, wo GusGus aus Reykjavík spielen. Sie sind ebenfalls ein Electronic-Gewächs der neunziger Jahre, was sie auch nicht verbergen. Ein anheimelndes Wiederhör-Gefühl – zumal der Sound richtig gut ist. Als sich in der zweiten Hälfte eine Gastsängerin hinzugesellt, driftet das Ganze Richtung Vocal House, was ebenfalls bestens funktioniert.
Poppiger und aufregender geht es wenig später im Glashaus bei der Schwedin Beatrice Eli zu (nicht zu verwechseln mit der Schweizer Schlagersängerin Beatrice Egli). Die 28-Jährige trägt eine Art Gothic-Domina-Look mit strengem Pferdeschwanz und an den Seiten ausrasierten Haaren, dazu knallroten Lippenstift, Lederjacke und schwarze Corsage mit weißen Verzierungen auf Brüsten und Scham – nach und nach legt sie die Kleidung ab. In den knalligen, oft Achtziger-beeinflussten Elektropop-Songs geht es ausschließlich um Frauen – das komplette Programm von Sex bis Herzschmerz. Besonders überzeugen das Ting-Tings-hafte „The Last Time“ und die R’n’B-Nummer „Violent Silence“, bei denen Beatrice Eli ihre ganze Stimmpower ausspielen kann.
Volle Power ist auch das Stichwort für das nach ihr auftretende New Yorker Trio Ratking, das mit „So It Goes“ eines der spannendsten Hip-Hop-Alben des letzten Jahres aufgenommen hat und das Erbe der Beastie Boys fortschreibt. Der kleine MC Wiki mit der großen Gebisslücke ballert seine Zeilen mit hohem Aggro-Faktor in den leider nur halbvollen Raum. Später kommt Hak dazu, manchmal auch der zwischen ihnen am Technikpult stehende Sporting Life, der ein vielschichtiges hyperaktives Beat-Gemisch zusammenbraut. Auch wenn dem Set etwas mehr Energie- und Tempovariation guttäte: Ratking muss man im Auge behalten.