Der Berliner Rundfunkchor auf Asientournee: Brahms in Kowloon
Ost-West-Liaison: Der Berliner Rundfunkchor bereist Taiwan und Hongkong - und begeistert sein chinesisches Publikum mit einer ganz speziellen Version des Brahms-Requiems.
Die Loke Yew Hall der Universität von Hongkong ist gut gefüllt. Plötzlich sind alle still – denn Worte hängen im Raum wie Fäden: „Selig sind, die da Leid tragen“, der Beginn von Johannes Brahms’ „Deutschem Requiem“. Es ist, als würde die Luft selbst singen, engelsgleich, ortlos. Wo kommen die Stimmen her? Sie sind überall, scheinen in jedem Molekül zu stecken. Der Rundfunkchor Berlin wandelt in privater Kleidung mitten im Publikum, aber das Auge erfasst ihn nicht in seiner Gesamtheit. So vertraut man dem Ohr, gibt sich dem Klang hin. Die physische Nähe der Stimmen geht ans Herz.
„Human Requiem“ ist eine der erfolgreichsten Produktionen des Rundfunkchors der letzten Jahre. Und schönstes Beispiel für die Strategie von Orchesterdirektor Hans Rehberg und Simon Halsey, dem ehemaligen Leiter des Rundfunkchors. Beide wollen Chormusik stärker von der Koppelung mit Orchester emanzipieren, sie als selbstständige Marke etablieren und für das nicht so vertraute Repertoire durch die Paarung mit Schwesterkünsten, etwa Tanz, ein größeres Publikum finden. Das „Deutsche Requiem“ ist zwar alles andere als unbekannt, aber so, wie es hier erklingt, eben doch unerhört. Brahms selbst hat das Werk für Klavier zu vier Händen gesetzt, und wer es einmal in dieser Fassung gehört hat, vermisst das Orchester nicht mehr. Denn so entfaltet sich der Chorgesang in seiner ganzen unverstellten Pracht.
Seit der Premiere 2012 im Berliner Radialsystem war „Human Requiem“ auf der Baustelle der Elbphilharmonie Hamburg zu sehen, in Rotterdam, Amsterdam, Granada und Paris. Und jetzt also beim Hongkong Arts Festival, wo es schnell zum Publikumsliebling avanciert. Dass der Rundfunkchor überhaupt nach Asien reist – er hat eine Woche mit Christian Josts „Lover“ in Taipeh gastiert –, und zwar nicht gemeinsam mit einem der großen Berliner Sinfonieorchester, sondern selbstständig, auch das ist neu.
Die universelle Kraft von Brahms' Musik scheint keine kulturellen Grenzen zu kennen
Wie reagiert ein chinesisches Publikum, das doch ein völlig anders Verständnis von Nähe hat, auf diese Inszenierung, bei der Chor, Publikum und Dirigent Nicolas Fink ständig in Bewegung sind, den Raum durchpflügen („denn wir haben hier keine bleibende Stadt“, heißt es im sechsten Satz), sich „gasförmig“ verhalten, wie Regisseur Jochen Sandig es nennt? Die universelle Kraft von Brahms’ Musik scheint keine kulturellen Grenzen zu kennen. Die Menschen weichen einfach aus, wenn die Chorsänger auf sie zukommen, finden eine andere Stelle, an der sie sich niederlassen können, alles ganz geschmeidig. „In Hamburg war das anders“, erzählt Sandig, „dort spürte man die Haltung: ,Ich hab doch bezahlt, warum soll ich denn jetzt aufstehen?’“ Chorsänger Holger Marks, Tenor, vermutet: „Gerade weil die Menschen den Text nicht kennen und nicht verstehen, reagieren sie viel spontaner und intensiver auf das Geschehen.“ Was natürlich nicht heißt, dass es gar keine kulturellen Barrieren mehr gibt. Als bei der Probe die Sopranistin Sylvia Schwartz mit Reis beworfen werden soll – im Westen ein Fruchtbarkeitssymbol –, reagiert das studentische Testpublikum verstört: In China weckt man damit die Geister der Toten. Der Reis wird am Abend weggelassen.
Eigentlich ein Wunder, dass die Hongkonger überhaupt Muße haben, sich auf diese für sie so fremdartige Kunst einzulassen. Hat hier doch eigentlich keiner Zeit. Während der Rush Hour mit der U-Bahn zu fahren heißt, die eigene Vorstellung von Autonomie des Gehens aufzugeben, sich dem fremden Tempo der Masse zu überlassen. Die Ereignisdichte ist enorm, der Platz extrem begrenzt. Eingeklemmt zwischen dem Hafen, einer Meerenge des Pazifiks, und den Bergen, die sofort steil ansteigen, wachsen Tausende von Wohntürmen schlank wie Getreidehalme in die Höhe. Hongkong hat das Bauen am Hang perfektioniert. Vertikale Stadt. Über die Straßen legt sich, einen Stock höher, ein ausgeklügeltes System von Fußgängerwegen. Die mit 20 Minuten Fahrzeit längste überdachte Rolltreppe der Welt, die Central-Mid Levels Escalator, verbindet Quartiere miteinander und schafft Austausch. Sie ist zum Wahrzeichen und zur Hauptschlagader des Fußgängerverkehrs in Hongkong geworden.
"Lover": Östliche Perkussionskunst trifft auf westlichen Chorgesang
Mehr Ruhe herrscht am anderen Ufer, an der Südspitze der Halbinsel Kowloon. Hier kommen Einwohner und Touristen in friedlicher Eintracht zusammen, um Wind, Sonne und die spektakuläre Skyline mit allen Sinnen zu erfahren, hier findet die Stadt zu sich selbst. Eine Stadt, die „weder wirklich chinesisch noch britisch ist“, wie es Tisa Ho ausdrückt, die Direktorin des vor 44 Jahren gegründeten Hongkong Arts Festivals. „Hongkong ist einfach schon immer extrem international.“ Bei dieser geografischen Lage wohl zwangsläufig. Am Ufer von Kowloon geben Bands oder Einzelkämpfer improvisierte Konzerte – eine Stimmung, wie sie in Berlin am ehesten auf der Warschauer Brücke zu finden ist. Hier steht auch das Hongkong Cultural Center, eine Bunkerscheußlichkeit aus den 80er Jahren, fensterlos in bester Wasserlage. Aber wie so oft: Nicht die Hülle, sondern der Inhalt zählt. In den zwei Flügeln des Baus sind Bühne und Konzerthaus untergebracht, hier tritt das Hongkong Philharmonic Orchestra auf, dessen Chef Jaap von Zweden künftig auch die New Yorker Philharmoniker leiten wird.
Zwei Mal auf dieser Reise ist hier der Rundfunkchor mit „Lover“ zu hören. Das Stück, 2014 im Kraftwerk Berlin uraufgeführt, ist eine Ost-West-Begegnung eigener Art. Christian Jost, 2012/13 Composer in Residence beim National Symphony Orchestra Taiwan, hat altchinesische Liebeslyrik aus dem Liederbuch „Shi-Jing“ und erotische Gedichte von E.E. Cummings vertont – und Perkussionskunst des taiwanesischen U-Theaters mit der westlich geprägten Tradition des Chores kombiniert. Kurze Töne, die in Liegetöne münden, melodiöse Kantilenen und steigende und fallende Linien prägen den Chorpart. Bei der Entstehung des Stücks hat Josts vor Kurzem verstorbene Ehefrau, die Sängerin Stella Doufexis, eine wichtige Rolle gespielt. „Sie war meine Inspirationsquelle für alles“, sagt er.
Das Stück ist aber auch Ergebnis seiner langen Beschäftigung mit der Musik des Fernen Ostens, mit der im Zen trainierten Fähigkeit, sich eine Stunde lang in Gelassenheit zu üben, den Geist zu leeren – um dann einen einzigen Ton zu produzieren. „Während die Musik im Westen schon früh den Weg zum Virtuosentum gegangen ist und sich auf den Solisten ausgerichtet hat, ist sie im Osten nahezu immer spirituell geprägt und in ein Ritual eingebunden“, erklärt Jost.
Eine Besucherin wundert sich beim Publikumsgespräch, dass „Lover“ – entgegen dem Titel – so wenig Erotik zu bieten habe. Er habe ein stark spirituell geprägtes Stück schaffen wollen, erwidert Jost, um dem Stoff damit alles Plakative, Alltagsabbildende zu entziehen. Am ehesten erotisch sind die regelmäßigen Stöße der Gongs, von denen es in der chinesischen Musik so viele gibt, dass schon die Fülle ihrer Bezeichnungen auf ihre Bedeutung hinweist. Der Chor leistet Erstaunliches, singt er doch die chinesischen Passagen im originalen Mandarin. Vielleicht wird er nächstes Jahr wieder eingeladen. Die Chancen dafür stehen gut.
Die Recherchen für diesen Artikel wurden unterstützt durch die Rundfunk Orchester und Chöre GmbH