68. Filmfestival Cannes: Bonjour Cannes (I)
Unter diesem Motto berichten wir ab heute täglich vom wichtigsten Filmfestival der Welt. Heute: Was hat die Frauenquote mit dem Festival zu tun? Und: Gespanntes Warten auf den Eröffnungsfilm.
Ein bisschen genervt war Thierry Frémaux zuletzt schon, wenn es darum ging, seinem Festival mangelnde Frauenfreundlichkeit vorzuhalten. Nun hatte der Cannes-Chef, mit Emmanuelle Bercots Sozialdrama „La tête haute“, zum ersten Mal seit fast 30 Jahren den Film einer Regisseurin zur Eröffnung programmiert, und gleich deuteten Kritiker das als bloß spätberufene Einsicht. Fünf französische Filme im Wettbewerb, davon zwei von Frauen: aha, knapp die Quote, raunte man. Und besonders tückisch Aufgelegte erinnerten sich gleich, dass erst wenige Monate zuvor die Berlinale, wenn auch nicht eben glücklich, mit einem „Frauenfilm“, Isabel Coixets „Nobody Wants the Night“, eröffnet hatte. Da wird der so stolze Weltfilmfestivalmarktführer Cannes doch nicht etwa der Konkurrenz aus Berlin hinterherstöckeln? Tja, böse Zungen, böser Spaß.
Der eloquente und selbstbewusste Festivalchef ist bekanntlich um einen schnellen Konter nie verlegen. Und so gab Thierry Frémaux, kaum war das Programm verkündet, sogleich dem US-Branchenblatt „Variety“ zu Protokoll, Bercots „La tête haute“, mit dem das Festival am heutigen Mittwochabend eröffnet, habe man schlicht deshalb ausgewählt, weil es ein guter Film sei. „Darauf bin ich ebenso wenig stolz, wie ich mich schuldig fühlen würde, wenn wir keine Filme von Frauen im Wettbewerb hätten.“ Und, grundsätzlicher noch: „Ich weiß nicht, ob die Filmemacher Männer oder Frauen sind, groß oder klein, weiß oder schwarz oder rot, jung oder alt. Wir laden Filme ein und wählen nicht nach der Geschlechtszugehörigkeit ihrer Macher aus. Dieses Jahr gibt's keine spanischen Beiträge im Wettbewerb. So ist das.“
Kluge Männer, schöne Frauen?
Nun könnte man durchaus ein bisschen weiter herumsticheln. Etwa an der Tatsache, dass die aktuelle Jury mit den Brüdern Joel und Ethan Coen als Präsidenten bestimmt männlicherseits ebenso unterhaltsam bestückt sein dürfte wie mit den Schauspielerinnen Sophie Marceau, Sienna Miller, Rossy de Palma und der Sängerin Rokia Traoré weiblicherseits schön (komplettiert wird das Gremium durch Guillermo del Toro, Xavier Dolan und Jake Gyllenhaal). Sollte hier das in Cannes gern beherzigte Jury-Kompositionsprinzip „kluge Männer, schöne Frauen“ noch einmal greifen? Aber nicht doch. Die fünfköpfige Jury der Nebenreihe „Un certain regard“ etwa wird von drei Regisseurinnen dominiert: neben der Präsidentin Isabella Rossellini von Haifaa al-Mansour aus Saudi-Arabien und der Libanesin Nadine Labaki. Dass zwei von ihnen auch als Schauspielerinnen reüssierten: umso besser.
Einstweilen aber herrscht Vorfreude in Cannes, auch und gerade auf die Handschriften der Regisseurinnen. Emmanuelle Bercots außer Konkurrenz gezeigter „La tête haute“ mit Catherine Deneuve als Jugendrichterin, die das kriminelle Abgleiten eines Jugendlichen zu verhindern sucht, will Frémaux - vor dem Hintergrund der Pariser Terroranschläge Anfang des Jahres - auch als politischen Beitrag Frankreichs verstanden wissen. Valerie Donzellis Inzestdrama „Marguerite et Julien“, mit Anais Demoustier und Jérémie Elkaim, ist als „zeitgenössisches Märchen über Begehren, Leidenschaft, Hoffnung, Liebe und Tod“ höchst temperamentvoll angekündigt, und ihre Kollegin Maiwenn erzählt in „Mon roi“ (mit Vincent Cassel und Emmanuelle Bercot) von nichts Geringerem als dem Leiden an einer todgeweihten Liebe.
Große Namen im Wettbewerb
Bevor das Festival sich bald auch mit den von Männern verfertigten restlichen 17 Wettbewerbsfilmen beschäftigt - darunter Werken von Gus van Sant, Nanni Moretti, Todd Haynes, Jacques Audiard, Matteo Garrone, Hirokazu Koreeda und Paolo Sorrentino - geht das Schlusswort zum Festivalstart noch einmal an Thierry Frémaux. Gegenüber „Variety“ erinnerte er daran, vergangenes Jahr sei Jane Campion Jury-Präsidentin gewesen, habe aber keineswegs flugs feministo-solidarisch die Goldene Palme an den Film einer Frau vergeben (sondern an Nuri Bilge Ceylans „Winter Sleep“). Womit sie, haarfeiner Zusatz, allerdings auch ihr in bis dahin 67 Cannes-Jahrgängen erworbenes Alleinstellungsmerkmal bewahrt habe. Richtig, 1993 holte Jane Campion, mit „Das Piano“, als bislang einzige Regisseurin die Goldene Palme.
Jan Schulz-Ojala