Günther Birkenfelds „Wolke – Orkan – und Staub“: Bombennacht über Berlin
Fulminante Wiederentdeckung: Der neuaufgelegte Roman „Wolke – Orkan – und Staub“ von Günther Birkenfeld handelt von den Bombenangriffen des Novembers 1943.
Kriege mit einem Gottesgericht zu vergleichen, ist etwas aus der Mode gekommen. Schließlich geht es nicht um Schuld und Sühne, wenn Armeen gegeneinander zu Felde ziehen, auch wenn sich die Anführer dabei gerne auf höhere Wesen berufen. Der Tod kann jeden treffen, nicht bloß Sünder. Und anders als in religiösen Endzeit-Szenarien ist die Welt noch in keinem Krieg untergegangen. Das Leben ging, wie es stets bei Katastrophen heißt, weiter. Und immer gab es Überlebende, die von den Schrecken erzählen konnten.
„Wir haben die apokalyptischen Reiter herbeigerufen auf die Städte der anderen, auf Warschau und Rotterdam und Coventry“, berichtet einer dieser Erzähler. „Nun kommen sie über die unseren mit den dröhnenden Hufen ihrer Rosse, mit Schwert und Sense, Waage und Sanduhr!“ Der „Gedankensplitter“ rast einem Obergefreiten namens Hechta im November 1943 in der Leitstelle der Berliner Flugabwehr durch den Kopf. Dort erleben tief unter der Erde eingebunkerte Wehrmachtssoldaten die bis dahin schwersten Luftangriffe. In mehrtägigen massiven Attacken der Westalliierten versinken große Teile des Stadtzentrums in Schutt und Asche, darunter die Gedächtniskirche, das Schloss Charlottenburg und die Museumsinsel.
Atemberaubende Verdichtung
Die Szene stammt aus dem Roman „Wolke – Orkan – und Staub“ von Günther Birkenfeld. Das Buch aus dem Jahr 1955, das zwischenzeitlich so vergessen wie sein Verfasser war, ist gerade vom auf Ausgrabungen spezialisierten Verlag Das Kulturelle Gedächtnis wiederveröffentlicht worden. Birkenfeld hatte ab 1941 selbst im Berliner Flugabwehrkommando gearbeitet. Mit der Figur des Obergefreiten Hechta hat er dem Lyriker Peter Huchel, der zur selben Einheit gehörte, ein literarisches Denkmal gesetzt. Hechta ist ein Grübler und Skeptiker, der Verlaine-Verse rezitiert, während der Befehlsstand von den Bombeneinschlägen erschüttert wird: „Sie kommen, sie nahn, im / schwarzen Gelände.“
Die fünfzig Seiten, die in einer atemberaubenden Verdichtung von den Bombenangriffen des Novembers 1943 handeln, sind das Herzstück des Romans. Spätexpressionistische Metaphern wechseln mit sachlichen Passagen und sarkastischen Bemerkungen. Während eine „Mosquito“ über Moabit kreist, setzt sich im Bunker eine Stubenfliege genau auf den Punkt der Gradnetzkarte, auf dem Hechta das Aufklärungsflugzeug einzeichnen will. Kneift er die Augen zusammen, erinnert ihn das Insekt „an einen Leichenwagen dritter Klasse mit Fransen“. Das Licht der Leuchtmunition, mit denen Pfadfindermaschinen den Bombengeschwadern den Weg weisen, macht die Nacht zum Gespenstertag. Zwischen still niederschwebenden „Christbäumen“ aus Magnesium zeigen sich „blinkende Sterne und glasigrote Bälle“. Vom Stadtrand schießen Flugabwehrkanonen in „die grüne Magie“. Häuser geraten bei den Explosionen ins Torkeln, Menschen werden von einer „riesigen Faust aus Luft“ niedergeschlagen.
Vor zwanzig Jahren hatte W. G. Sebald eine Debatte über das Verhältnis der Literatur zum Luftkrieg ausgelöst, als er einer „ganzen Generation deutscher Autoren“ ihre Unfähigkeit vorwarf, „das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis“. Damals wurde das Werk von Gert Ledig wiederentdeckt, der in seinem Roman „Vergeltung“ von 1956 einen Angriff auf eine ungenannte deutsche Großstadt, mit der wohl das Hamburg des Feuersturms gemeint war, in nüchterner Brutalität geschildert hatte. Aber stimmte Sebalds These überhaupt? Seine Kritiker verwiesen auf Autoren wie Hans Erich Nossack, Ralph Giordano oder Uwe Timm, die das Trauma des Bombenkriegs thematisiert hatten. Allerdings meist nur als Nebenstrang einer weiter gefassten Erinnerung.
Wie lebt es sich in einer Diktatur?
Von der Trümmerliteratur hatten die meisten Deutschen bereits wieder genug, als das Wirtschaftswunder begann. An einem selbstkritischen Umgang mit der Vergangenheit waren sie nicht interessiert. Ledigs Buch, zu dessen erschütternsten Sequenzen der Lynchmord an einem amerikanischen Piloten gehört, und Birkenfelds Berlin-Roman, der darauf hinweist, dass der Bombenkrieg von deutschen Flughäfen ausging, wurden bei ihrem Erscheinen kaum beachtet. „Wolke – Orkan – und Staub“ ist als Epochenpanorama angelegt, das vom Olympiajahr 1936 bis in die Nachkriegszeit reicht.
Wie lebt es sich in einer Diktatur? Macht man mit, begeistert oder zähneknirschend? Reicht der Mut, um auf Distanz zu gehen, sogar Widerstand zu leisten? Das sind die Fragen, die Birkenfeld stellt. Er lässt viele Figuren auftreten, alle lavieren zwischen Opportunismus und Opposition. Ein Unternehmer versteckt Verfolgte, verdient aber mit Uniformen, die er für das Regime schneidern lässt, ein Vermögen. Der Sohn seines Hauswarts macht in der Gestapo Karriere und soll gegen den Vater ermitteln, der Flugblätter gegen Hitler verteilt. Eine Sekretärin betrügt ihren Verlobten mit einem verheirateten Mann, der später in den Kellern des Prinz-Albrecht-Palais zu Tode gefoltert wird. Unschuldig ist keiner, alle sind ins kollektive Verbrechen verstrickt.
Günther Birkenfeld, Jahrgang 1901, war 1929 mit seinem Jugendroman „Dritter Hof links“ bekannt geworden. Das Buch fasse „den Diamant der Armut in dichterisches Gold“, lobte Else Lasker-Schüler. 1933 wurde der Roman verboten und öffentlich verbrannt. Aber Birkenfelds literarische Biografien über Kaiser Augustus und Johannes Gutenberg konnten 1934 und 1937 erscheinen. Peter Graf, der vor einem Jahr mit drei Mitstreitern den Gedächtnis-Verlag gründete, rechnet Birkenfeld der inneren Emigration zu. Der Schriftsteller war mit deutsch-jüdischen Autoren wie Alfred Kantorowicz befreundet, er stand wohl auch im Kontakt zu den Widerständlern der „Roten Kapelle“ und des 20. Juli. In den Protagonisten von „Wolke – Orkan – und Staub“ spiegelt sich, wie Graf im Nachwort erläutert, diese Konstellation.
Birkenfelds und Huchels Biografien verlaufen lange parallel
„O Nacht der Trauer, Nacht April, / die ich im Feuerdunst durchschwamm.“ Die Zeilen, in denen Peter Huchel sein persönliches Kriegsende im April 1945 rekapituliert, finden sich in einer schönen, vor kurzem herausgekommenen Bild- und-Text-Monografie über den Dichter. Er ist zuletzt als Soldat in in Süd-Brandenburg stationiert, begeht Sabotageakte, entkommt in letzter Sekunde einem Standgericht, flieht schwimmend durch ein Gewässer.
Birkenfelds und Huchels Biografien verlaufen lange Zeit parallel. Nach 1945 trennen sich ihre Wege. Huchel wird Chefredakteur der Zeitschrift „Sinn und Form“, erhält den Nationalpreis der DDR. Birkenfeld warnt bei einem Schriftstellerkongress vor der Sowjet-Doktrin des sozialen Realismus und gründet eine antikommunistische „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“.
Der kolportagehafte letzte Teil von „Wolke – Orkan – und Staub“ spielt im ideologisch aufgeheizten Klima des faktisch bereits geteilten Berlins. Lange vor dem Mauerbau geht ein tiefer Riss durch die Stadt. Wie eine Freundschaft daran scheitern kann, auch dafür ist der fulminante Roman ein Dokument.
Günther Birkenfeld: Wolke – Orkan – und Staub. Roman. Herausgegeben von Peter Graf. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, 438 S., 25 €
Matthias Weichelt: Peter Huchel. Leben in Bildern. Deutscher Kunstverlag, Berlin und München 2018, 96 S., 22 €
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