W. G. Sebald: Der Ich-Auswanderer
Als Person nur im Werk vorhanden: zwei Ausstellungen über den Schriftsteller W. G. Sebald.
Er ist einer der meistdiskutierten deutschsprachigen Autoren der jüngeren Vergangenheit, und obwohl er 2001 mit 57 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, dauert seine Konjunktur an. W. G. Sebald, der aus Wertach im Allgäu stammte und ab 1970 Germanistik an der University of East Anglia im englischen Norwich lehrte, debütierte als Dichter 1988 mit „Nach der Natur“, einem sogenannten „Elementargedicht“. Innerhalb eines Jahrzehnts legte er dann vier große Prosawerke vor: „Schwindel. Gefühle“ (1990), „Die Ausgewanderten“ (1992), „Die Ringe des Saturn“ (1995) und „Austerlitz“ (2001).
Während diese Bücher in Deutschland über den Status des Geheimtipps zunächst nicht hinauskamen, avancierte Sebald in den angelsächsischen Ländern zum Kultautor. Zwei Ausstellungen in Stuttgart und Marbach bieten jetzt die Möglichkeit, dem Ruf dieses Autors nachzugehen. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat 2004 Sebalds vollständigen Nachlass erworben. Unter dem Titel „Wandernde Schatten – W. G. Sebalds Unterwelt“ gewährt das Literaturmuseum der Moderne jetzt erstmals Einblicke in die Hinterlassenschaften des Dichters. Parallel zur Marbacher Schau zeigt das Stuttgarter Literaturhaus unter der Überschrift „Zerstreute Reminiszenzen – Gedanken zur Eröffnung eines Stuttgarter Hauses“ eine Ausstellung, die sich auf Sebalds gleichnamige Rede zur Eröffnung des Literaturhauses im November 2001 bezieht.
Die Marbacher Schau ist nach den Worten der Kuratorinnen Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter „konsequent aus dem Nachlass heraus“ entwickelt. Das war insofern kein Problem, als Sebald selbst seine Papiere schon in 68 Schachteln gesammelt und sortiert hatte. Dort fanden sich Manuskripte zu seinen vier Hauptwerken sowie all die Materialien, die der Autor bei den Vorarbeiten zu diesen vier Büchern zusammengetragen hat: Fotos, historische Ansichtskarten, Zeitungsausschnitte, Exzerpte aus der Weltliteratur, Schmetterlingshandbücher und getrocknete Blätter und Blüten. Ergänzt um die etwa 1200 Bände umfassende Privatbibliothek des Schriftstellers mit allen darin vorgenommenen handschriftlichen Vermerken ergibt sich ein Resonanzraum, in dem sich die fertigen Werke und das Material, das in sie eingegangen ist, wechselseitig beleuchten.
Doch zugleich liefert man sich damit auch der Selbststilisierung des Autors aus. Denn alles, was Sebald der Nachwelt nicht überliefern wollte, fehlt. Sebalds Hinterlassenschaften kennen keine Privatheit, vielmehr ist alles immer schon aufs Werk hin ausgerichtet. Selbst die erhaltenen Briefwechsel beziehen sich auf die Bücher, an denen der Autor gerade arbeitete oder die er veröffentlicht hatte. Eine Lese- und Schreibfabrik: Wer den Menschen hinter dem Autor sucht, wird nichts finden. Anders gesagt: Alles, was Zeugnis für die Privatperson W. G. Sebald sein könnte, wie sein Fotoapparat oder seine Brille, wird sofort zum Material für das Werk.
Es war daher konsequent, die Ausstellung als großes Spiegelkabinett zu inszenieren, in dem jede Textzeile und jedes Foto aus Sebalds Büchern seine Entsprechungen in den Textzeilen und den Bildern hat, von denen sich der Autor hat anregen lassen. Die Wände des Hauptraums der Schau bestehen aus Spiegeln, in denen der Besucher sich selbst erblickt. Die Präsentation der vier Hauptwerke greift die im Ausstellungstitel beschworene Metapher von der „Unterwelt“ auf: Sie schichtet die Exponate in Glasvitrinen so übereinander, dass sich die Struktur eines Hypertextes ergibt, bei dem die Sätze und Bilder aus Sebalds Büchern als Überschreibungen eines bereits vorhandenen Materials lesbar werden. Wenn in „Austerlitz“ vom Antwerpener Hauptbahnhof oder von der neuen Pariser Nationalbibliothek die Rede ist, kann der Betrachter in der Vitrine unter der aufgeschlagenen Buchseite die Fotos oder die Zeitungsartikel studieren, die Sebald inspirierten.
Dieses Verfahren der assoziativen Korrespondenzen zwischen weit auseinanderliegenden Fachgebieten und Zeiträumen gehört zu Sebalds Markenzeichen. Dahinter verbirgt sich ein poetologisches Programm: Es geht ihm – so heißt es in „Austerlitz“ – um die „Wiederkunft der Vergangenheit“, um den „Augenblick der Errettung“ des Verlorenen in der Literatur. Wie Jacques Austerlitz, die Titelfigur des Romans, ist auch Sebalds Werk motiviert von der Erfahrung, „dass sämtliche Zeitmomente gleichzeitig nebeneinander existierten“. Die Rede zur Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses, die durch Sebalds Tod wenige Wochen später zu einer Art Vermächtnis wurde, formuliert das so: „Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die bloße Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution.“
Diese Restitution des Vergangenen in einer Zusammenschau des Ungleichzeitigen betreibt auch die Stuttgarter Rede, indem sie Hölderlin und Daniel Paul Schreber, die Stuttgarter S-Bahn-Station „Feuersee“ und die Feuersbrunst nach den Bombenangriffen auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg, eine Polizeirazzia gegen jüdische displaced persons 1946 und ein Massaker der SS in der französischen Stadt Tulle zusammenbringt. Die Ausstellung im Stuttgarter Literaturhaus spinnt dieses Sebald’sche Verfahren weiter und illustriert den Text seiner Rede durch Fotos, Zeitungsausschnitte und Postkarten.
Beide Ausstellungen folgen also getreu den Maximen von Sebalds Poetik, die so tut, „als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume“, wie es in „Austerlitz“ heißt. Man hätte sich natürlich auch einen anderen Zugang zu diesem Werk vorstellen können. Einen, der dessen Logik nicht gläubig nachvollzieht, sondern dekonstruiert. Eine solche Dekonstruktion würde Sebalds Versuch, die eigene Identität aufzulösen in einem Geflecht von vergangenen Identitäten, als eine Art Auswanderung aus dem eigenen Ich beschreiben. Da flieht jemand vor dem eigenen Selbst und der eigenen Gegenwart in eine Vergangenheit, die nicht vergehen soll und die Herrschaft erringt über alle übrige Zeit. Aus dieser Perspektive gliche Sebald einem Vampir, der ein eigenes Leben nur dadurch gewinnt, dass er sich vom Blut der Toten ernährt.
Literaturmuseum der Moderne, Marbach, bis 1. Februar 2009; Stuttgarter Literaturhaus, bis 19. Dezember.
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