Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Blut und Hoden
"Terrorkampagne mit Musik": Sebastian Klink inszeniert das Stück "Exodus" des Exilrussen Pjotr Silaew an der Volksbühne.
„Ihr seid ein Stück lebendes Fleisch im Viehstall“, agitiert der junge Mann mit dem Stalin-Tattoo vom stählernen Gerüstbau herab ins Volksbühnen-Publikum. „Eure Gene und die Geschichte eures Vaterlandes bergen eine toxische Ladung, die euer gesamtes zukünftiges Leben vergiften wird.“ Urheber dieser finsteren Diagnose, die der Schauspieler Patrick Güldenberg hier so wutbürgerengagiert unter die Leute bringt, ist der 1985 in Moskau geborene Pjotr Silaew. Der Autor, der unter dem Pseudonym „DJ Stalingrad“ firmiert und inzwischen außerhalb Russlands lebt, weil er dort, wie sein Verlag mitteilt, wegen der Teilnahme an militanten antifaschistischen Aktionen per Haftbefehl gesucht wird, porträtiert in seinem Manifest „Exodus“ seine eigene Generation: die letzte in der Sowjetunion geborene.
Was konkret bedeutet, dass Silaews Hundertseiter praktisch von Schlägerei zu Schlägerei springt, mit wechselnden Hintergründen. Mal dreschen sich Punks und Neofaschisten bei einem Fußballspiel gegenseitig die Köpfe blutig, mal bei einem Konzert. Dazwischen gibt’s lupenreine Nihilismus-Diskurse: „Wir haben nichts, keine Ziele und Prinzipien“, erklärt der Ich-Erzähler. „Wir sollten im Namen von irgendwas leiden und sterben, aber nun, wo all das egal ist und dumm, ziehen uns nur das Leid und der Tod an.“
Schon bei Castorfs "Brüdern Karamasow" waren Silaew-Texte eingestreut
Volksbühnen-Intendant Frank Castorf hatte seine Dostojewski-Inszenierung „Die Brüder Karamasow“, die letzten November Premiere hatte, mit Passagen aus Silaews Text durchzogen und den ebenso erlösungssehnsüchtigen wie -unfähigen Dostojewski-Personenkreis erhellend in dieser postkommunistischen Generation gespiegelt. Nun setzt Castorfs Regieassistent Sebastian Klink mit einer vollständigen, als „Terrorkampagne mit Musik“ untertitelten „Exodus“-Inszenierung nach und stellt eine eigens zu diesem Zweck gegründete Metal-Combo namens „The New World Order“ in einen käfigartigen Metallbauzaun-Verschlag, der von den Schauspielern mehr oder weniger abendfüllend erklettert wird, während das Publikum davor auf dem blanken Asphaltboden sitzt.
Inszenierungsmethodisch orientiert sich Klink an seinem Chef und umlagert den Kerntext des Abends mit diversem Fremdmaterial. Gemessen allerdings an Castorf selbst, der bei seinen Diskurs-Wucherungen in der Regel komplex-luzide (historische) Bögen spannt und tatsächlich mit neuen Perspektiven auf mehr oder weniger kanonische Texte überrascht, liegt bei Klink vieles recht nahe. In einer der zahlreichen Passagen, in denen das Schauspieler-Quartett Alexander Scheer, Margarita Breitkreiz, Patrick Güldenberg und Rouven Stöhr am Metallzaun hängt und eine Prügelszene beschreibt, ergießen sich über eine Videoleinwand zum Beispiel Archiv-Lustigkeiten aus dem realsozialistisch-pädagogischen Kinderfernsehen.
Wohltemperierte Hipster-Optik
Später gibt es auch noch einen Exkurs zur zeitgenössischen russischen (Aktions-)Kunst à la Pjotr Pawlenski, der sich aus Protest nackt in Stacheldraht gewickelt oder seinen Hodensack auf dem Roten Platz in Moskau festgenagelt hatte, bevor er Anfang des Jahres von russischen Behörden in die Psychiatrie zwangseingewiesen wurde, nachdem er die Tür der Zentrale des Inlandsgeheimdienstes FSB angezündet hatte. Und Margarita Breitkreiz erzählt mit vollendeter Parabel-Ironie – und nach guter alter Castorf-Manier von Livekameras umwuselt – das alte Grimm-Märchen, in dem die Leidensgenossen „Strohhalm, Kohle und Bohne“ einer hungrigen Alten aus Herd und Suppentopf entspringen, um beim anschließenden kollektiven Auswanderungsversuch dann eben mehrheitlich eines anderen Todes zu sterben.
Passend zur karfreitäglichen Premiere – und zu Silaews Passionspassagen – finden sich die Männer des Ensembles zwischenzeitlich auch als „Jesus, Jesus 2 und Jesus 3“ am Kreuz wieder. Und Axel Wandtke schneit kurz vor Schluss als tiefenentspannter Knacki Franz Biberkopf aus dem Döblin-Roman „Berlin Alexanderplatz“ herein, den Klinks Chef Frank Castorf ja auch schon mal inszeniert hatte, und gibt den jungen Nihilisten pragmatische (Über-)Lebenstipps.
Nicht, dass die energetisch hoch engagierten Schauspieler nicht bemerkenswerte Szenen aus dem Zweistünder herausholten. Etwa, wenn Margarita Breitkreiz als prekäre Mutter ihr unbeaufsichtigtes Kleinkind versehentlich aus dem achten Stock stürzen lässt oder wenn Alexander Scheer in einer Abhandlung des Ich-Erzählers über den Schmerz die Kindheitstage pathosfrei in „schlechte und gute“ einteilt; nämlich „die, an denen mich meine Mutter doll schlug und die, an denen es nicht so doll war“. Alles in allem aber trudelt dieser „Exodus“ recht vorhersehbar, nicht ohne Längen und – gemessen an seinem eigenen Thema – vor allem in einer ziemlich wohltemperierten Hipster-Optik seiner Zielgeraden entgegen.
Nächste Vorstellungen: 1. und 9. April, 21.30 Uhr
Christine Wahl