Castorf bei den Wiener Festwochen: Sex, Drogen und Inquisition
Karierte Bettwäsche, Wodkaflaschen, Sexpuppen: Frank Castorf lässt in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ die russische Provinz mit der postkapitalistischen Moderne kollidieren. Ab November ist die Inszenierung der Wiener Festwochen in Berlin zu sehen.
„Willkommen in der Welt der Verdammten“, verkündet Alexander Scheers Iwan, der sich als Fan des exzessiven US-Punkrockers Jesus Christ Allin outet: „Wir sind eine verlorene Generation!“ Geradezu zärtlich umkreist die Videokamera das Stelldichein der drei Brüder Karamasow im Pornozimmer: prall aufgeblasene Sexpuppen auf schmucklosen Sofas, umrankt von bunten Paradiesblumen an den Wänden. „Verstehst du nicht, dass man sich vor Begeisterung umbringen kann?“, fragt Dmitrij (Marc Hosemann), nur knapp dem Drogentod entkommen, entbrannt in Liebe zu Gruschenka ebenso wie in Hass auf seinen Nebenbuhler, den eigenen Vater. Ängstlich blicken die großen, dunklen Augen des Novizen Alexej (Daniel Zillmann) in die Kamera: „Ihr gehört zu diesen postsowjetischen Menschen, denen nur eines zu eigen ist: Fun! Und Fertigteilhäuser aus Skandinavien“, hallt es besorgt durch die alte Fabrikhalle.
Was wäre als Spielort passender für „Die Brüder Karamasow“ als die ehemalige Sargfabrik in Wien-Liesing, um Fjodor Dostojewskis in gesellschaftlicher und familiärer Stagnation wie lebendig begrabene Figuren um gedankliche Auswege ringen zu lassen? Mit der szenischen Adaption von Dostojewskis letztem Roman von 1879/80 setzt Frank Castorf gemeinsam mit Ausstatter Bert Neumann seine langjährige Auseinandersetzung mit dem russischen Romancier bei den Wiener Festwochen fort.
Seit seinen legendären „Dämonen“ (1999) ist es nun die sechste Dostojewski-Inszenierung, die vor dem Hintergrund des zaristischen Russlands unsere postkapitalistische Gesellschaft ins Visier nimmt. Ab November wird sie in Berlin zu sehen sein.
Aufschrei im Provinzkosmos
Sechseinhalb Stunden dauert Castorfs Erkundung des Familienepos, in dem sich der Mord am tyrannischen Vater und die schmerzhafte Abwesenheit Gottes zu einem unlösbaren Konflikt verschränken. Zwar schwanken die Hauptfiguren zwischen utopischem Messianismus und humanistischer Rebellion, dennoch verkündet am Ende der Novize Aljoscha die Unsterblichkeit wie einen Einspruch gegen die heraufziehende Moderne. In einem Video lässt Castorf Daniel Zillmann, umringt von Knaben mit roten Fahnen, stolz über eine Wiese ziehen, als käme die soziale Revolution nur noch in historischen Dokumentarfilmen vor. Iwans emanzipatorische Revolte gegen eine vermeintlich göttliche Ordnung endet hingegen im Wahn.
Castorfs Inszenierung ist ein melancholisch-eindringlicher Aufschrei gegen das sich fortsetzende Scheitern menschlicher Selbstbestimmung. Mit seinen gewohnt exaltierten Mitteln bringt er die Verhältnisse zum Tanzen, indem er deren Strukturen dekonstruktiv entblößt. Dostojewskis Provinzkosmos erscheint nunmehr als Zitat in Form eines dunklen Jagdhauses mit rot-weiß karierter Bettwäsche und Wodkaflaschen des Vaters Karamasow (Hendrik Arnst). Davor ein Pavillon in einem Wasserbassin, darüber die Leinwand für Videobilder aus den Innenräumen verlorener Seelen. Ärmliche Lattenholzgänge verbinden das dörfliche Holzhaus mit der Wohnschachtel einer modernen Großstadt.
Leere Hallen und dunkle Gänge
In einem Zimmer mit Silbermond- Schaukel und Postern von Pop-Ikonen wie Courtney Love kreischt Lilith Stangenbergs Katerina der listigen Gruschenka nach: „Eine Nadel Heroin in ihren fetten Arsch!“ In einem Che-Guevara-Gedächtnisraum hat Kathrin Angerers Gruschenka ihren großen Auftritt: Als Porno-Queen im Leopardenpelz-Imitat schmust sie mit dem „properen Küken“ Aljoscha, dem die Bäckchen erglühen.
Es sind Textfragmente aus dem Roman „Exodus“ des jungen russischen Dichters Piotr Silaev alias DJ Stalingrad, die Castorf seinen Spielern in den Mund legt und dadurch Dostojewskis philosophische Diskurse durch Gegenwartsbefunde erweitert. Verfolgt von den russischen Behörden und zermürbt in Straßenschlachten zwischen Neofaschisten und militantem Nationalisten betäuben die jungen Menschen ihre Zerrissenheit mit Drogen: „Dieses Land hat die höchste Depressionsrate!“, verkündet Lisaweta (Margarita Breitkreiz). „Ja, ich bin so süchtig!“, singt das Ensemble in Disco-Tanzformation.
Castorf gelingt es an diesem Abend, die Verflüchtigung von Realität in einer überforderten Mediengesellschaft fühlbar zu machen: In langen Videosequenzen folgt die Kamera dem Ensemble nicht nur in leere Hallen und dunkle Gänge der Fabrik oder in die hinter der Bühne liegende Kapelle des Starez Sossima (Jeanne Balibar), sondern auch ins Freie. Im roten Licht der untergehenden Sonne vor dem Hintergrund der Industrieanlage schleudert Alexander Scheer die Theodizeekritik des Großinquisitors direkt in die Kamera: Von der Erlösung sind wir ebenso weit entfernt wie von der Errichtung eines Paradieses auf Erden.
Castorf inszeniert rauschhaft und macht Lust aufs Leben
Als das Tageslicht verlischt, scheint sich auch Gott verflüchtigt zu haben. Übrig bleibt das alles überstrahlende Rosa einer russischen Coca-Cola-Leuchtschrift – der Kapitalismus als Religionsersatz. Da driftet Iwan in den Wahnsinn, ausgelöst durch die Beichte Smerdjakows (Sophie Rois), den Vater nach Iwans Motto, „alles ist erlaubt“, getötet zu haben. Vom kühlen Beobachter, leidenschaftlichen Ankläger und verträumten Denker bleibt am Ende ein sprachlos taumelnder, großartig-vielschichtiger Alexander Scheer übrig, der vor Jeanne Balibars fast nacktem Teufel flüchtet.
Mit Hans Holbeins Holztafelgemälde „Toter Christus im Grabe“ taucht Iwan in das flache Wasserbecken. Immer wieder betrachtet er das Bild, von dem Dostojewskis Fürst Myschkin in „Der Idiot“ sagt, es könne den Glauben auslöschen wegen seiner kompromisslos-realistischen Todesdarstellung.
Auch wenn sie im zweiten Teil zu langatmig und akustisch problematisch geriet, schürt Castorfs rauschhaft theatrale Meditation dennoch Lust aufs Leben: indem Chaos in eine weltliche „Ordnung“ gebracht wird.
Christina Kaindl-Hönig
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