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Das Ensemble von Lutz Hübners und Sarah Nemitz’ Stück „Phantom (Ein Spiel)“.
© David Baltzer/Grips

„Phantom (Ein Spiel)“ am Grips Theater: Blanca, ein Baby und viele Fragen

Armut und Vorurteil: Das Grips Theater zeigt das mitreißende Stück „Phantom (Ein Spiel)“.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass der Schriftsteller Uwe Tellkamp mit seiner steilen Behauptung für Aufsehen sorgte, 95 Prozent der Migranten kämen nach Deutschland, „um in die Sozialsysteme einzuwandern“. Klar zog das den erwartbaren Wirbel aus Beifall und Empörung nach sich, Statistiken wurden hin und her geworfen. Aber bestehen blieb ein Bild, das offenbar tief bis ins bürgerliche Milieu durch die Köpfe geistert: Wer nicht gerade vor dem Krieg zu uns flieht, ist Sozialschmarotzer. Falls irgendein Politiker mal Lust verspüren sollte, seine Karriere im Rekordtempo zu ruinieren, dann sollte er öffentlich die Frage stellen, ob nicht auch Armut ein legitimer Grund wäre, hier sein Heil in der Flucht zu suchen.

Am Hansaplatz Berlin, wo ja das Grips Theater beheimatet ist, hatten soziale Anliegen seit je ihre eigene Dringlichkeit. Nicht zuletzt weil der Ort selbst ein Brennpunkt ist, ein Areal der Obdachlosigkeit, und man in Theaterpausen eine Bettelei der beklemmend aggressiven Sorte erleben kann. Was es nicht leichter macht, sich zu den Guten mit reinem linken Bewusstsein zu rechnen. Passend zu alldem ist jetzt ein Stück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz in der Regie von Petra Zieser am Grips zur Premiere gekommen, das zur Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie zur kritischen Selbstbefragung einlädt.

Die Figuren erfinden Biografien voller Stereotypen

Es heißt „Phantom (Ein Spiel)“ und nimmt seinen Ausgang in einem Fast- Food-Laden nach Feierabend. Die maulige Niedriglöhner-Belegschaft sammelt den Müll ein – und stößt zum allgemeinen Entsetzen auf ein elternloses Baby. Ein Findelkind, gewickelt in eine rosa-weiße Decke mit Schmetterlingsapplikationen. „Ein iPhone wäre besser gewesen“, scherzt eine der Angestellten noch. Und schon beginnen die Mutmaßungen: Hat da nicht vorhin diese Roma-Familie am Tisch gesessen? Aber die sollen ja kinderlieb sein. Oder kaufen sie Kinder? Was für eine mag das gewesen sein, diese Romni, eine Bulgarin, Rumänin, Bosnierin, Mazedonierin?

Nennen wir sie Blanca. So beginnt das titelgebende Spiel bei Hübner und Nemitz. Die Schauspielerinnen – Lisa Klabunde (neu im Grips-Ensemble), Amelie Köder und Luisa-Charlotte Schulz – begeben sich abwechseln in die Rolle dieser imaginären Frau und entwerfen eine fiktive Biografie mit etlichen Abzweigmöglichkeiten. Meist in Richtung Stereotyp. Ist Blanca aus ihrem kleinen osteuropäischen Dorf per Bus mit verstopfter Toilette gen Deutschland aufgebrochen, weil ihr Vetter Todor (den Part übernimmt Frederic Phung) dort eine kleine Firma für Putzfrauen gegründet hat, bei der sie anheuern will? Hat sich dieser Plan zerschlagen, weil Todor ein geschäftsuntüchtiger Windhund ist, und musste Blanca danach den erwartbaren Pfad einschlagen? Bettelei, Prostitution, Verelendung?

Welcher Betteltyp bist du eigentlich?

Nein, so leicht macht es uns das Stück nicht. Immer wieder fallen die Spielerinnen und Spieler aus den Rollen und verhandeln die Klischeefallen, in die sie gerade zu tappen drohen. Das holpert anfangs noch ein bisschen. Gewinnt dann aber eine große Sogkraft. Vor allem weil durch diesen Kunstgriff jeder Einfühlungskitsch vermieden, weil eben nicht das bittere Sozialmärchen des gefallenen Mädchens erzählt wird, das wir als Opfer wegbedauern können. Es geht in „Phantom“ um unsere Projektionen auf Menschen, von denen wir so gut wie nichts wissen. Und meist auch nichts wissen wollen.

Regisseurin Petra Zieser, die von Haus aus Schauspielerin ist und in den Achtzigern am Grips engagiert war – unter anderem als Bisi in der Uraufführung von „Linie1“ –, inszeniert dieses Stück für den Abendspielplan mitreißend und drängend, mit einem hervorragenden Ensemble, zu dem neben den Genannten auch Christian Giese zählt. Auf Mathias Fischer-Dieskaus grob geweißter Transit-Bühne mit Rückwand als Projektionsfläche (unter anderem für tolle Animationen von Gregor Dashuber) entfaltet „Phantom“ dank ihr das volle Verunsicherungspotenzial, zwischen dem Crashkurs „Welcher Betteltyp bist du?“ und der Utopie von Santa Blanca.

Nicht zuletzt beleuchten Hübner und Nemitz dabei eine Schattenökonomie, die sich von den Ärmsten ernährt. Es sind ja nicht nur die Schlepper im Mittelmeer, die sich am Elend bereichern. Dass für Kellerlöcher als Wohnstatt abkassiert wird, dass zwielichtige Typen für angebliche Formalitäten die Hand aufhalten, das ist auch in Berlin soziale Realität und kein Spiel.

Wieder am 9., 29. u. 30. Juni, 1. Juli

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