Oscars 2015: die Analyse: "Birdman", "Boyhood" und die anderen
Was brachten die Academy Awards? Schrille Sekunden, Pech für Historien-Epen – und ein am Ende ungleiches Duell.
Es gibt sie noch, die historischen Momente – auch und gerade bei den Oscar-Galas, deren Zuschauer stets auf den bewegenden oder auch kuriosen Augenblick für die Ewigkeit hoffen. Letztes Jahr war dies unbestritten das von Moderatorin Ellen DeGeneres initiierte Star-Selfie, das Twitter total lahmlegte; diesmal schreibt sich zuerst der Kurzauftritt des bloß mit einer Herrenunterhose bekleideten Moderators Neil Patrick Harris in die zeremoniellen Geschichtsbücher. Der Oberkörper des Undressman? Verblüffend gestählt. Die Unterwäsche? Soweit mit bloßem Auge erkennbar, angenehm markenwerbungsfrei.
Oder sollte man ihn fortan Slipman nennen, so zweisilbig wie den Triumphator dieser 87. Oscar-Nacht? Schon früh verweist die inszenierte Panneneinlage auf Michael „Birdman“ Keatons halb nackt absolvierte Filmszene am New Yorker Times Square, die den abgewrackten Kinosuperhelden wenigstens in den Social Media unfreiwillig berühmt macht. Glück bringt das intime Kleidungsstück allemal: Als Alejandro González Iñárritu den zweiten seiner drei Oscars entgegennimmt, sagt er, er trage heute die echten „Michael Keaton tighty whities“. Womit er sich zweifellos für einen Talisman der ganz besonderen Art entschieden hatte.
Nun bietet die von Harris ansonsten überwiegend angestrengt musterschülerhaft durchmoderierte Gala auch Historisches im ernsteren Fach. Der seit 2001 in Los Angeles wohnende Iñárritu selber, erster Top-Oscarsieger aus Mexiko, nutzt in seiner finalen Dankesrede die Gelegenheit, „Würde und Respekt“ für die Millionen seiner Landsleute zu fordern, die in diesem „unglaublichen Einwanderungsland“ namens USA leben. Wobei die aktuell 6292 Mitglieder fassende Academy bereits letztes Jahr Iñárritus Landsmann Alfonso Cuarón einigen Respekt erwiesen hatte: Dessen „Gravity“ holte sieben Oscars, darunter den für Regie – und musste sich am Ende nur „12 Years a Slave“ geschlagen geben.
Steve McQueens Sklavendrama war tatsächlich ein historischer und auch politischer Sieg, und er wirkte auf seine Weise in die Oscarsaison hinein. Bis zuletzt verübelten Unterstützer des Martin-Luther-King-Historienepos „Selma“ der von „alten weißen Männern“ dominierten Academy, weder die schwarze Regisseurin Ava DuVernay noch den schwarzen Hauptdarsteller David Oyelowo nominiert zu haben. So gerät der schlichte Oscar für den „Selma“-Filmsong „Glory“ – ungeachtet der vielen schwarzen Laudatoren – zur schrillen Demo, als „Glory“-Songwriter die hohe Zahl schwarzer Gefängnisinsassen beklagt, „mehr als zu Zeiten der Sklaverei um 1850“. Hat sich seitdem, trotz des Aufstiegs von Millionen Afroamerikanern in die Mittelschicht, in der US-Rechtsprechung so wenig zu ihren Gunsten verändert?
Das Bedürfnis nach dem extremen Statement, ja, dem Manifest, das viele Preisträger angesichts der knapp 4000 Gäste im Dolby Theatre von Los Angeles und der stets großzügig geschätzten Zuschauermilliarde an den Fernsehschirmen erfasst, treibt mitunter skurrile Blüten – gerade angesichts der so kurz bemessenen Dankessekunden. So erinnert Dana Perry, die Produzentin des Kurzdokumentarfilms „Crisis Hotline“ über traumatisierte Kriegsheimkehrer, an den Selbstmord ihres 15-jährigen Sohns vor zehn Jahren und schließt daraus, fortan „laut über Suizid zu reden“. Und Patricia Arquette, die den einzigen Oscar für den lange mitfavorisierten „Boyhood“ holt, fordert zunächst eine „ökologische Reinigung“, bevor sie allen Müttern sowie Steuerzahlern dankt und endlich ihr wichtiges Thema findet: gleicher Lohn für gleiche Arbeit und überhaupt „Gleichberechtigung für die Frauen in den Vereinigten Staaten von Amerika“.
Oscars für "The Grand Budapest Hotel", ein ermutigendes Signal für das Studio Babelsberg
Es ist dann Meryl Streep, die nach diesem flammenden Bekenntnis aufspringt und jubelt – und damit sorgt auch sie für einen so medienwirksamen wie herausragenden Moment dieser Gala. Was aber bleibt wirklich? Aus deutscher Sicht, aus sächsischer – Stichwort: „Görliwood“ – und Berlin-Brandenburgischer in erster Linie, dass Wes Andersons hier gedrehter „The Grand Budapest Hotel“ zumindest von der Summe der Oscars her mit dem großen Sieger gleichzieht. Der Erfolg ist auch ein ermutigendes Signal für das nach Hollywood-Maßstäben konkurrenzfähige Studio Babelsberg.
Als international bedeutsamer und polithistorisch relevant prägt sich ein, dass Edward Snowden mit dem Oscar für Laura Poitras' Dokumentation "Citizenfour" zumindest symbolisch zu Academy-Ehren gekommen ist - der Whistleblower, der das Bewusstsein für die gefährdete Freiheit in den Staaten der sogenannten freien Welt irreversibel geschärft hat, gilt in Amerika nach wie vor als hoch umstrittene Person. Schwer - und nach Oscar-Maßstäben womöglich ebenfalls irreversibel - haben dagegen Filme über positiv identifikationsträchtige Helden mit verbürgtem historischem Hintergrund gelitten, bisher stets eine sichere Bank für den Academy-Geschmack. „American Sniper“, Clint Eastwoods Hymne auf den menschlich integren Irak-Krieger, hat es ebenso heftig erwischt wie „The Imitation Game“, Morten Tyldums Heldenepos an der filmisch scheinbar unverwüstlichen Antinazifront. Und sogar „Selma“, das filmische "Dr.King"-Denkmal, gehört in diese Reihe. Zwar hat die Academy keinen der acht Bewerber um die Königskategorie ohne Oscar ziehen lassen, aber diese alle holten jeweils nur einen. Arger Trostpreis.
Besonders bitter ist das für „Boyhood“. Spannung bezog diese Oscar-Verleihung bis fast zuletzt vor allem aus dem durch Vorgängerpreise und Buchmacherquoten befeuerten Duell der ausgewiesenen Schauspielerfilme „Boyhood“ gegen „Birdman“. Für welches Selbstbild würde sich die vor allem von Schauspielern geprägte Academy entscheiden – für die sich über zwölf Jahre erstreckende Patchworkfamilienstory mit real erwachsen und älter werdenden Schauspielerin oder für die satirische Abrechnung mit den Supermännern von dunnemals und den heutigen One-Million-Klickwundern?
Verschiedener hätten die Konkurrenten nicht sein können. Richard Linklaters Langzeitprojekt „Boyhood“ erzählt unangestrengt und bewegend vom NormaloLeben, wobei das über Jahre kohärente Team dieses singulären Experiments für fast hyperrealistische Wahrhaftigkeit bürgt. Iñárritus „Birdman“ studiert, seriell mit brillanten Soli und Konfrontationen im Theatermilieu, die existenzprägende "Spieglein, Spieglein"-Scheinwelt des Schauspielberufs überhaupt. Tief innen lustig ist hier wenig, auch wenn Linklater immer wieder mal das Heitere, Iñárritu eher das garstig Komische sucht. Am ehesten noch ähneln sich die Filme in ihrem finalen Befund: Das Leben und das Scheinleben, sie sind beide nur schwer auszuhalten.
Welches der zwei Werke nun eher Filmgeschichte schreibt, über die Oscar-Chronik hinaus? Im Überschwang des Gala-Finales sagt Alejandro Gonzalez Iñárritu, es sei „die Zeit allein, die über unsere Arbeit urteilt“. Er will damit, freundliche Geste, die unterlegenen Konkurrenten trösten. Vielleicht aber spricht er damit, ganz nebenbei, schon das Urteil über sich selbst.
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