Architektur der Hauptstadt: Berlin ist nicht Bilbao
Leben statt Spektakel: Die Highlights der hauptstädtischen Architektur finden sich in Seitenstraßen Berlins.
Berlin setzte nie internationale Trends wie Paris während der Belle Epoque oder Chicago kurz vor 1900 als Wiege der Hochhausentwicklung. Und dennoch sind an der Spree immer Entwicklungen vorangetrieben und auf hohem Qualitätsniveau umgesetzt worden, denen international Respekt gezollt wurde: sei es die Planung einer Industriemetropole des späten 19. Jahrhunderts durch James Hobrecht, sei es der Siedlungsbau der zwanziger Jahre. Aber auch die „kritische Rekonstruktion“ zu Zeiten der Internationalen Bauausstellung 1984/87 von Josef Paul Kleihues, der die Architektenelite der Welt zum Bauen nach Berlin lockte.
Noch nach der Wiedervereinigung machte Berlin mit Hauptstadtbau von sich reden, mit Fosters Reichstagskuppel, mit dem großen Wurf „Band des Bundes“ mit Kanzleramt und Abgeordnetenhaus von Axel Schultes und Charlotte Frank. In der Folge wurde viel gebaut, doch die großen Spektakel blieben aus. Stadtreparatur war angesagt, Wiedergewinnung der historischen Straßen- und Platzräume. Gestalterische Innovationen hat die zuständige Senatsverwaltung eher ausgebremst. Dennoch entstanden einige Hingucker wie das Ludwig-Erhard-Haus von Nicholas Grimshaw 1998, das Krematorium in Treptow von Schultes/Frank 1999 oder Norman Fosters Philologische Bibliothek der FU in Dahlem 2005.
Gesetzliche Standards sind Pflicht, aber die architektonische Qualität bleibt auf der Strecke
Solch zeichenhafte Bauten sind seitdem nicht mehr entstanden, obwohl die Betonmischer auf Hochdruck laufen. Der Bürobau folgt dem Mainstream der Solidität und Langeweile. Neue Ministerien kommen „berlinisch“ daher, mit endlosen Reihen senkrechter Fensterschlitze wie an der Spree zurzeit üblich. Ein weltweit beachteter Großbau wird den Berlinern wohl erst wieder von Rem Koolhaas mit dem geplanten Axel-Springer-Campus an der Lindenstraße beschert. Kritiker halten deshalb die Berliner Architektur im internationalen Vergleich für rückständig.
Schlagzeilen und hinreißende Bilder aus London und Dubai, Singapur und Szechuan muss man freilich nüchtern betrachten, sagen sie doch herzlich wenig aus über die funktionalen, konstruktiven, nachhaltigen, stadtstrukturellen, soziologischen Qualitäten der gefeierten signature buildings. Wie aber steht es um die Berliner Architektur der ganz normalen Wohnungs- und Bürobauten im internationalen Vergleich? Zunächst mögen die in Paris, Rotterdam oder London erfrischender, oft unkonventioneller, unbekümmerter als die hiesigen erscheinen. Deren Qualitätsstandards aber würde hierzulande kaum jemand akzeptieren.
Wenn Klagen über Berliner Verhältnisse angebracht sind, dann sicherlich über den jüngsten Bauboom, der den Eindruck erweckt, dass überall in der Stadt ungezügelt Wohnungsbauten hektisch hochgezogen werden, in der Gewissheit, dass derzeit alles unbesehen gekauft wird. Die hohen gesetzlichen Standards sind Pflicht, aber die architektonische Qualität bleibt auf der Strecke. Man begnügt sich mit schematischen Grundrissen wie zu Zeiten des sozialen Wohnungsbaus in den sechziger Jahren, obwohl die Lebensentwürfe und Familiensituationen heute anders sind.
Es gibt aber auch Projekte, da spürt man die Zuwendung des Architekten
Dass sich Wohnungen ohne Freisitz nicht verkaufen, wissen die Investoren. Doch dass der Aufenthalt auf den wie Schubladen aus der Fassade gezogenen Balkonen mit Präsentiertellereffekt äußerst ungemütlich ist, merken die Käufer erst nach dem Einzug. Wenn sich in der Familienwohnung, deren Garderobe aus Kostengründen auf eine knapp meterbreite Nische geschrumpft ist, zur kalten Jahreszeit im Flur die Stiefel und Anoraks türmen, dann weiß der Kunde: Hier ging es nicht um durchdachte Grundrisse für die Bewohner, nicht um Baukultur, sondern nur um Profit.
Dabei muss sich beides nicht ausschließen. Auch hierfür gibt es in der Stadt zahlreiche Beispiele, realisiert von engagierten Architekten im Zusammenwirken mit Investoren, die ihre Aufgabe neben dem Geldverdienen darin sehen, Lebensraum zu schaffen, qualitätsvolle, flexibel nutzbare Wohnungen samt urbanem, kommunikativem Umfeld.
Für eine Baulücke in der Pettenkoferstraße zum Beispiel entwarfen Hastrich Keuthage Architekten einen Wohnhof mit 132 Wohnungen, der auf seine Nachbarschaft aus dem frühen 20. Jahrhundert mit einer voll verglasten Fassade antwortet. Deren Erker- und Balkonmotive interpretiert der Neubau mit Vor- und Rücksprüngen sowie stockwerkweise Versätzen und bringt damit gleichzeitig die differenzierten Wohnungsgrößen und Zuschnitte im Inneren zum Ausdruck. Die Wohnungen reagieren individuell auf jeweils unterschiedliche Aussichts- und Belichtungsverhältnisse, den Gartenhof oder die Dachterrassen. Man spürt die Zuwendung des Architekten und kann die Gedanken nachvollziehen, die er sich über jeden Winkel des Gebäudes gemacht hat.
Oder das erstaunliche, strahlend weiße Wohnhaus in der Waisenstraße, das man in diesem Büroquartier hinter dem Stadthaus nicht erwarten würde. Sieben Wohnungen hat Architekt Sohrab Zafari auf dem komplizierten Grundstück in mehreren Baukörpern irgendwie in die Höhe geschachtelt, um allen Räumen möglichst gute Belichtung zu sichern. „Weiße Moderne“ könnte man es nennen, aus präzise geschnittenen Kuben komponiert, wie es in Berlin sonst nur in Villenvierteln zu sehen ist.
Die Entwicklung der besseren Wohnverhältnisse in Berlin ist auch international auf der Höhe der Zeit
Formale Verwandtschaft könnte man vielleicht mit den Wohnhäusern der Architekten Kaden + Lager (bis 2013 Kaden + Klingbeil) sehen, die verschiedentlich in Pankow, Friedrichshagen, Mitte und Weißensee aus Baulücken herausleuchten. Die siebengeschossigen, differenziert gestalteten Häuser in Holzbauweise sind überregional viel beachtete technische Pionierbauten. Sie treten mit ihrer eleganten Erscheinung auch formal im jeweiligen Straßenzug in den Vordergrund.
Es sind vor allem Baugruppenprojekte, die mit innovativen Lösungen aufwarten, weil die Bauherren eigene individuelle Bedürfnisse realisieren wollen. Und die sehen meist anders aus als das geläufigen Drei-Zimmer-Küche-Bad-Einerlei. Mit solchen Projekten haben sich unter anderem zanderroth architekten hervorgetan, etwa in der Christburger Straße, wo hinter einer abwechslungsreichen Ganzglasfassade jede Wohnung einen anderen Zuschnitt bekam.
Gleich fünf Berliner Projekte haben es in eine internationale Auswahl zu diesem Thema einer Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum im Frankfurt/Main geschafft, sie war dort bis Februar zu sehen. Darunter das „Spreefeld“, bei dem sich 65 Bauherren zusammengefunden haben, um ihre jeweils individuellen Vorstellungen in drei achtgeschossigen Bauten am Spreeufer zu verwirklichen. Das von Silvia Carpaneto, fatkoehl architekten und BarArchitekten entworfene und von Die Zusammenarbeiter moderierte Projekt hat inzwischen einige Bekanntheit erlangt. Es gilt als Musterbeispiel dafür, wie man sozialverträglich bezahlbaren Wohnraum schafft und eine lebendige Hausgemeinschaft entwickelt, die sich darüber hinaus auch noch offensiv in die Quartiersaktivitäten einbringt.
Auf dieser Ebene der Entwicklung besserer Wohnverhältnisse ist Berlin auf der Höhe der Zeit, auch international betrachtet. Wenn sich nun noch die überhitzte Konjunktur im Sektor Eigentumswohnungsbau etwas abkühlt und die Nachfrage kritischer nach mehr Qualität verlangt, ist man auf dem richtigen Weg. Berlin ist nicht Bilbao. Auf Spektakelbauten kann man getrost verzichten. Offenbar kommen die Touristen trotzdem in dramatisch steigender Zahl an die Spree.
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