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Der Berliner Künstler Gustav Spangenberg (1828-1891) verlor zwei seiner Kinder bei der Cholera-Epidemie. Sein Ölgemälde „Der Zug des Todes“ stammt von 1876.
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Seuchen von früher: Berlin in Zeiten der Cholera

Der Staat war hilflos: Wie die Epidemie 1831 Preußen und Europa überzog – und was die Menschen als Gegenmittel ausprobierten.

Der Autor Olaf Briese lebt als Kulturwissenschaftler in Berlin. Im Akademie Verlag ist von ihm erschienen „Angst in den Zeiten der Cholera“, 4 Bände.

Ein Witz aus der Cholera-Zeit in Berlin 1831: Zwei nicht mehr ganz standsichere Eckensteher lesen die offiziellen Verhaltensmaßregeln. Der eine referiert für den anderen: „1. Du sollst Aufregung meiden! 2. Du sollst keinen Branntwein trinken!“, worauf der andere ihn unterbricht: „Aber grade dit regt mir uff!“

Die Cholera gab damals in Europa ihre dramatische Premiere. Als sie sich im Frühjahr 1831 zum ersten Mal den preußischen Grenzen von Indien über Russland her näherte, wurde sie abgetan. Asiatischer Schmutz! Die Länder der Aufklärung und des Fortschritts hielten sich für sicher.

Auch die Obrigkeit leistete ihren Beitrag zur Wahrnehmungspflege: Nachrichtensperre, Leugnen von Krankheitsfällen, Zensur.

Umso schockierender trat das Gegenteil ein. Eilig wurden staatliche Verhütungsmaßnahmen ergriffen. Sogenannte Kordons wurden eingerichtet, die jeglichen Kontakt mit den verseuchten Gebieten verhinderten und nur nach mehrwöchiger Quarantäne ein Passieren erlaubten.

Leugnen von Krankheitsfällen, Zensur

Aber diese Grenzsperrungen und auch die Sperren im Innern der Länder halfen nichts. Daraufhin wurden individuelle Abwehrmaßnahmen bevorzugt – maßvolle Lebensweise, sorgsame Ernährung, intensive Körperhygiene. Dieses Sicherungsversprechen zerstob. Auch das Vermeiden sozialer Kontakte oder Desinfektionsmaßregeln schlugen nicht an. Nicht einmal die Flucht half.

Als die Seuche Ende 1831 und Anfang 1832 auf dem Seeweg auch England und Frankreich erreichte, war ganz Europa ein Schauplatz der Epidemie. Jahrzehnt um Jahrzehnt kehrte sie wieder und wurde zur Leitkrankheit des 19. Jahrhunderts.

Nunmehr galt sie als neue Pest. Doch dieser Vergleich hinkt. Hätte man die Wahl zwischen Pest und Cholera, müsste man immer die Cholera wählen. Stets verlief sie, gemessen an der Pest, eher glimpflich. Aber sie verursachte Ängste, denn sie traf eine Kultur, die glaubte, dass Seuchen endgültig der Vergangenheit angehören.

Räucherungen gegen die Seuche

Am Ende gab es rund 1500 Tote in Berlin – und eine bleibende Verunsicherung. Dazu trug bei, dass die Wissenschaft keine Kenntnisse der Übertragungswege hatte. Und über Therapien schon gar nicht.

Es bestanden, wie auch bei der Pest, zwei konkurrierende und gleichermaßen fehlgehende Erklärungsmodelle: Einerseits Übertragung der Cholera als dunstiges Miasma durch die Luft. Andererseits Ansteckung per Kontagionsstoff, wie das damals hieß, und zwar per direkter Körperberührung oder per Kontakt mit Gegenständen. Dagegen sollten Desinfektionsräucherungen helfen.

Einst, während der Pest, hatte es öffentliche Feuer und Kanonenschüsse in die Luft gegeben, um die Luft zu reinigen. Nunmehr beschränkten sich die, die es sich leisten konnten, auf Räucherungsapparate.

Zusätzlich wurde in Berlin für einige Wochen das öffentliche Tabakrauchen auf den Straßen und im Tiergarten erlaubt. Das war ansonsten verboten, weil es angeblich das Ansehen des Monarchen beschädigte; erst mit der Revolution 1848 wurde die Rauchfreiheit erkämpft.

Kontakte von Mensch zu Mensch unterbinden

Dieses Miasmenmodell, das sich auf Luft fokussierte, stammt aus der Antike. Das Kontagionsmodell hingegen war viel jünger, ein Kind der Renaissance. Ihm zufolge halfen nur strenge Absperrungen. Der Kontakt von Mensch zu Mensch sollte weitgehend unterbunden werden. Länder, Städte, Häuser und Wohnungen wurden verbarrikadiert. Die Staaten jener Cholerazeit favorisierten gerade dieses neuzeitliche Modell.

Das entsprach der Logik des Absolutismus: anordnen, verwalten, dirigieren, absperren. Menschen als Verschiebemasse. Nicht der Staat ist für die Bürger da, sondern umgekehrt. Heute ist das gänzlich anders (möchte man meinen). Wirtschaftspolitisch waren diese Sperrmaßnahmen natürlich kontraproduktiv. Aber wie sehr kümmerte die Adelsstaaten tatsächlich die Wirtschaft?

Doch das Absperren verhinderte die Ausbreitung der Cholera nicht, führte vielmehr zu Spannungen. Handel und Handwerk brachen ein, eine soziale Krise bahnte sich an.

Lazarette und Spitäler waren, zumindest aus Sicht der Unterschichten, die schlimmste Option. Von da, so die gar nicht so verquere Logik, gab es nur noch einen Ausgang – den auf den Friedhof. Ärzte nämlich hatten einen schlimmen Ruf.

Prügel für Ärzte und Apotheker

Vor allem in der Frühphase der Epidemie, als sie im Sommer 1831 die ostpreußischen Gebiete ergriff, flohen die Ärmsten teilweise aus den Lazaretten. Ganz vereinzelt wurden Erkrankte gewaltsam herausgeholt. In Königsberg wurden Ärzte und Apotheker sogar verprügelt, in Stettin Medizinaleinrichtungen demoliert.

Rahel Varnhagen hatte in Berlin Gerüchte über jüdische Brunnenvergifter gehört. Ein anderes und in dem Sinne moderneres Gerüchtemuster war aber längst dominant: Ärzte als Menschenschinder!

Und so kam es auch in Berlin gelegentlich zu meist harmlosem „lärmendem Unfug“, wenn zwangsweise Einweisungen in Spitäler erfolgten. Oder zu einem kleinen triumphierenden Menschenauflauf beim Tod eines Arztes.

Dieses Misstrauen, dieser Hass auf Ärzte folgte einer scheinbar schlüssigen Logik. Ob es hieß, die Ärzte wollten die Überbevölkerung dezimieren, die überhandnehmenden Armen überhaupt ausrotten oder durch Quarantäne eine allgemeine Teuerung bewirken, ob es hieß, es gehe den Ärzten darum, Geld zu verdienen oder Material für medizinische Experimente an Lebenden oder Leichen für Sektionen zu gewinnen, ob sich gerüchteweise verbreitete, es ginge ihnen nur darum, die ersten Kranken zu beseitigen, um eine eventuelle massenhafte Ansteckung zu verhindern – immer hatten Gerüchte den Augenschein für sich.

Robert Koch alt als Retter

Im Verlauf der Wochen ebbte der Erregungsstrom ab. So auch der Krankheitsverlauf über ein halbes Jahr. Erst vereinzelte Fälle. Nach wenigen Wochen der Höhepunkt. Dann ein deutliches Sinken. Ohnehin gewöhnte man sich an die Seuche.

Die Stimmung normalisierte sich. Und die drastischen Maßnahmen wurden liberalisiert. Heute ist es geradezu umgekehrt: Ärzte, Ärztinnen und Apotheken werden bestürmt. Sie müssen versuchen, diesen Zustrom zu lenken.

Wie wurde die Cholera gemeistert? Die Bakteriologie Robert Kochs machte ab Mitte der 1880er Jahre die bisherigen Seuchenerklärungen hinfällig. Das galt für die miasmatische, die nur die Luft und die Natur in den Blick nahm.

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Und das galt für die kontagionistische, die sich nur auf Menschen fixierte. Nunmehr war klar, dass die Cholera sich vorrangig über das Trinkwasser verbreitete, eine Abwehr war möglich. Ein nachholender Triumph wurde gefeiert und Koch zum Retter des Menschengeschlechts stilisiert.

Gegenwärtig sind epidemische Krankheiten aufgrund von Bakteriologe und Virologie kein Mysterium mehr. Verbreitungswege können aufgeschlüsselt und teilweise eingedämmt werden, auf längere Sicht sind meist auch Therapien möglich.

Mampes bittere Tropfen

Einen Sieg der Vernunft gibt es jedoch keineswegs zu feiern. Epidemien sind und bleiben da. Ebenso Aufregung und Ängste.

Mitunter gar Hypochondrie. Früher versuchten Begüterte, sich mit allen möglichen Präservativmitteln zu schützen: mit Räucherungsmitteln, bestimmten Riechmitteln und Kräutern, mit Essig-Tinkturen und anderen Essenzen, mit bestimmter schweißtreibender Kleidung aus Flanell, mit wachs- oder gummiartigen Mänteln, mit Schwitzapparaten und Dampfbetten. Und ganz wichtig: saure Nahrung und starker Kaffee mit Alkohol!

Zu dieser Zeit erfand ein Sanitätsrat namens Mampe mit Alkohol angereicherte bittere Tropfen. Gelegentlich kamen auch magische Amulette zum Einsatz. Damalige Karikaturen von Choleramännern oder Cholerafrauen in absurder Ausstaffierung machten sich über diese Hypochonder lustig.

Heutzutage zeigt sich Hypochondrie auf andere Weise. Desinfektionsmittel werden gehortet, Handschuhe und Mundschutz. Sie werden wohl nur wenig zum Einsatz kommen, vielmehr irgendwann in Kommoden und Kellern verschwinden. Sie vermitteln immerhin das Gefühl, gut vorgesorgt zu haben.

Aber Klopapier? In der Cholerazeit hätte es wahrlich gute Dienste geleistet. Denn es handelte sich ja um eine Durchfallkrankheit. Heute kann es wohl nur dazu dienen, auf stillem Örtchen Corona-Witze darauf zu kritzeln.

Olaf Briese

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