Italiens Forscher im Kampf gegen Covid-19: Wie striktes Abriegeln eines Dorfes die Infektionsrate senkt
Je früher Behörden Maßnahmen ergreifen, desto effizienter sind sie. Der Epidemiologe Giovanni Rezza rät Deutschland aus Italiens Versäumnissen zu lernen.
Was derzeit in Italien passiert, könnte ein Blick in eine Zukunft sein, die Deutschland alsbald bevorstehen könnte: 12.839 Sars-CoV-2-Infizierte waren dort am Donnerstagabend registriert, 1.016 sind bereits gestorben. Damit sterben derzeit etwa fünf Prozent der Coronavirus-Infizierten in Italien. Selbst in der am stärksten betroffenen Provinz Chinas, in Hubei, lag diese Zahl bei etwa drei Prozent. In Deutschland misst das Robert-Koch-Institut bislang eine Letalität von Sars-CoV-Infizierten von erst 0,3 Prozent. Eine drastische Diskrepanz.
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Einer der Gründe für die hohen Zahlen ist wohl das Durchschnittsalter der italienischen Bevölkerung mit 45,4 Jahren höher als in China (38,4 Jahren) und vielen anderen EU-Ländern. „In Italien liegt das Durchschnittsalter verstorbener Covid-19-Patienten bei über 80 Jahren, aber wenn man sich die altersstratifizierten Daten ansieht, ist die Letalität in China sehr ähnlich“, sagte Giovanni Rezza dem Tagesspiegel. Der Epidemiologe und Direktor der Abteilung für Infektionskrankheiten am Higher Institute of Health in Rom berät auch die italienische Regierung.
Zu wenig Tests - das treibt die Sterberate hoch
Zum Alter kommen Vorerkrankungen hinzu: Basierend auf den Behandlungsunterlagen der Kliniken hatten die ersten 100 in Italien an Covid-19 verstorbenen Patienten durchschnittlich 2,5 Begleiterkrankungen, so Rezza. Um einen besseren Überblick über den Einfluss solcher Vorerkrankungen auf den Krankheitsverlauf der Covid-19-Patienten zu bekommen, hat Rezza in den vergangenen Tagen ein nationales Protokoll zur Datenerfassung eingeführt: Die Krankenhäuser werden aufgefordert, demografische Daten, das Datum des Auftretens der ersten Symptome, das Datum des Virus-Tests und den Schweregrad der Erkrankung mitzuteilen.
Ein weiterer Grund, der zu der hohen Sterberate führt, ist die vergleichsweise geringe Zahl von Tests, die in Italien durchgeführt werden: Je weniger Menschen getestet werden, umso weniger leicht Erkrankte werden erkannt, so dass die Rate von Todesfälle pro Infiziertem besonders hoch erscheint. Werden pro Covid-19-Toten statt 100 Infizierten nur 50 erkannt, der "Nenner" der Prozentrechnung also fälschlich zu gering geschätzt wird, verdoppelt sich die Sterberate.
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Die Ursache dafür ist, dass die Gesundheitsbehörden Italiens zu Beginn der Krise recht unvorbereitet waren und die Regionalisierung des öffentlichen Gesundheitswesens nicht zu einem kohärenten Vorgehen beim Testen beitrug. Als etwa in den kleinen Dörfern Codogno im südlichen Teil der Lombardei und Vo'Euganeo unweit von Padua in Venetien die ersten positiven Patienten identifiziert wurden, sperrten die Behörden beide Dörfer ab.
In Codogno wurden dann aber nur die Kontakte positiver Patienten getestet, während die Gesundheitsbehörden in Vo die gesamte Bevölkerung von rund 3300 Einwohnern dem Test unterzog, kurz nachdem die Maßnahmen zur Isolation und sozialen Distanzierung eingeführt worden waren.
"Frühzeitige Isolierung Infizierter kann die Ausbreitung hemmen"
Als Andrea Crisanti von dieser Maßnahme hörte, brach der Professor für klinische Mikrobiologie an der Universität Padova seine Reise nach Australien ab, denn er erkannte eine einmalige Möglichkeit, etwas über die Art und Weise der Verbreitung des Virus und die Wirksamkeit drastischer Maßnahmen zur sozialen Distanzierung zu lernen. "Die emotionale Entscheidung des Regionalgouverneurs stellte sich als Gelegenheit heraus, ein detailliertes Bild der Erkrankung und ihrer Ausbreitung zu betrachten", sagt Crisanti.
Drei Tage bevor die strenge Quarantäne in dem Dorf vorerst beendet wurde, ließ Crisanti die gesamte Bevölkerung des Dorfes erneut testen und Informationen über demografische, familiäre und soziale Verbindungen sammeln. Während in der ersten Testrunde drei Prozent der Bevölkerung positiv getestet wurden, lag die Zahl der Neuinfektionen zehn Tage später bei etwa 1 zu 1000: „Dies zeigt, dass eine frühzeitige Identifizierung und Isolierung positiv Getesteter die Ausbreitung der Infektion hemmen kann“, sagt Crisanti.
Inzwischen sind die Tests in Italien jenen vorbehalten, die an vorderster Front der Epidemie arbeiten und zur Ausbreitung der Ansteckung beitragen könnten, wenn ihre Infektion nicht rechtzeitig erkannt wird, also medizinisches, Sanitäts- und Pflege-Personal. Darüberhinaus werden nur noch Patienten mit Covid-19-Symptomen getestet. In der gegenwärtigen Situation sind es aber vorwiegend nur noch Menschen mit schwerwiegenden Symptomen, bei denen eine Einweisung ins Krankenhaus nötig erscheint, die getestet werden.
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Personen mit leichten Symptomen wird empfohlen zu Hause zu bleiben. Auf Sars-CoV-2 werden sie jedoch nicht mehr systematisch getestet. „Dies hat den Nenner wahrscheinlich sehr niedrig gehalten“, erklärt Rezza. Mit anderen Worten, während die Anzahl der Menschen, die an der Infektion gestorben sind, sicher ist, ist die Anzahl der Menschen, die trotz der Infektion überlebt haben, in Italien sicherlich viel höher als die offiziellen Zahlen sagen.
"Deutsche Behörden sehr optimistisch"
In Deutschland verläuft die Epidemie mit inzwischen rund 2400 Fällen und bislang erst sieben Toten (Stand Freitag Nachmittag), also einer Sterberate von etwa 0,3 Prozent, noch vergleichsweise flach ab. Noch. "Die deutschen Behörden scheinen mir sehr optimistisch zu sein", sagte Rezza dem Tagesspiegel am Donnerstagabend. „Sie ergreifen keine Eindämmungsmaßnahmen, die die Ausbreitung verlangsamen und den Krankenhäusern helfen könnten, mit einer starken Nachfrage nach Intensivpflege umzugehen. Je früher Sie diese Maßnahmen ergreifen, desto effizienter sind sie.“ Zumal die Demographie in Deutschland der Italiens ähnelt: Mit einem Durchschnittsalter von 45,9 mindestens vergleichbar viele ältere, besonders gefährdete Menschen.
Italien verfügt über 6000 Betten auf Intensivstationen und versucht derzeit, die Zahl auf 9000 zu erhöhen - was dringend nötig ist, da viele Covid-19-Patienten viel länger als Patienten mit anderen Atemwegserkrankungen eine Intensivpflege benötigen, im Durchschnitt etwa zwei bis drei Wochen. Für jene Patienten, die noch keine invasive Beatmungshilfe benötigen, aber hoch ansteckend und zu krank für häusliche Pflege sind, werden - nach chinesischem Vorbild - separate Stationen eingerichtet, etwa in Gebäuden der Messe in Mailand und Bergamo.
Fabio Turone, Daniela Ovadia aus Mailand