Corona: Das Virus und wir
Die Angst vor Seuchen lehrt Gesellschaften auch den Umgang mit sich selbst. Ein Kommentar.
Keine Panik, das nicht. Hysterie ist der schlechteste Ratgeber, auch jetzt, in der Abwehr des medial schon allgegenwärtigen Corona-Virus. Doch mischt sich die notwendige Vorsorge inzwischen nicht nur mit der vernünftigen Sorge.
Mit jeder neuen Meldung über die sich ausbreitende Pandemie dringt auch etwas ein in unser tieferes kollektives Bewusstsein. Etwas, das rational schwer steuerbar erscheint.
Gerade gehen in Berlin die Filmfestspiele zu Ende. Und das Kino, auch auf dieser Berlinale, ist von jeher neben der Traum- auch die große Alptraumfabrik.
Wir delektieren uns am Ungeheuren, an Vampiren und Aliens, an äußeren Katastrophen oder immer neuen psychoviralen Eindringlingen in die Köpfe und Körper der Leinwandfiguren. So viel unheimlicher Spaß, der die Geister der Wirklichkeit bannen soll. Was aber, wenn der Spuk plötzlich real wird?
Das Virus aus dem längst nicht mehr fernen Osten hält schneller und heftiger als geahnt auch die westliche Welt in Atem. Niemand hätte sich eben noch vorstellen können, dass über die Möglichkeit einer Abriegelung von Millionenstädten wie Mailand oder Berlin überhaupt ernsthaft nachgedacht werden könnte.
Urlaube, massenhaft abgesagt
Längst stürzen Aktien ab, fallen Wirtschaftsmessen und Weltmeisterschaften aus oder müssen verschoben werden, demnächst wird wohl ein Achtelfinale der Champions League in Turin zum Geisterspiel, und Millionen Menschen sagen derzeit geplante Reisen ab, auch kommende Osterurlaube.
Auch die Internationale Tourismus-Börse in Berlin, die als weltgrößte Fachmesse in Berlin am nächsten Mittwoch noch immer eröffnen will, steht so allemal im Schatten einer jähen, für die Wirtschaft und Teile der Gesellschaft vieler Länder existenziellen Krise.
Obwohl an dem neuen Virus schon weit mehr Menschen als einst an Sars erkrankt und gestorben sind, gilt die Pandemie in Deutschland selbst für den Fall, dass sie in signifikant höheren Zahlen auftritt, unter Medizinern und Politikern noch als „beherrschbar“.
Ohnehin ist das eigene Leid bislang unverhältnismäßig viel kleiner als das etwa der Opfer von täglichen Schrecken in Afrika oder des anhaltenden Syrien-Krieges. Trotzdem trifft das Virus auf eine Gesellschaft, die sich durch die Ballung von Nachrichten über Terror, Klimawandel, Finanzcrashs, soziale Spannungen, technologische Umbrüche und Zerfallserscheinungen in gewohnten politischen Systemen verletzt oder zumindest verwundbar fühlt. So sehr wie kaum je seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Sicherheit versus Freiheit
Viele ahnen, dass es um mehr geht als nur um verstärkte hygienische Vorsorge oder änderbare Reisepläne. Um mehr als eine meist nur kurzfristige Konjunkturdelle. Bisher beruht die bundesdeutsche Gesellschaft mehrheitlich auf der Ambivalenz zwischen hohen Versorgungs- und Absicherungsansprüchen gegenüber dem Staat – bei gleichzeitig maximal geweiteter individueller Freiheits- und Freizeitsphäre.
Kommt es hier im Fall erheblich stärkerer Restriktionen zum Konflikt, dann bricht auch ein möglicherweise nicht weiterhin zu verlängernder und zu verdrängender Widerspruch auf.
Alles muss sich ändern, damit es bleibt, wie es ist. Der berühmte Satz aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Sizilien-Roman „Der Leopard“ hat bislang noch immer gegolten. Auch in der Klimadebatte ist die liebste (oder ehrlichste) Devise: Alles für alle, nur bitte ohne Verzicht für mich.
Schon die jüngste, gerade von der jungen Generation vital geförderte Klimadebatte macht klar, dass ein nur leicht modifiziertes, gleichsam modernisiertes Weiterso nicht mehr hilft. Wobei eine wenig erfreuliche, gleichwohl realistische Einsicht in der Volksweisheit liegt, dass Menschen aus Schaden leichter klug werden.
Camus' Pest ist das Buch der Stunde
Das heißt auch, dass die Angst oder mindestens Sorge, so sie nicht zur kopflosen Panik gerät, ein strenger Lehrmeister nicht nur des medizinischen Fortschritts sein kann.
Anders als beim Klimawandel geht es beim Corona-Virus nicht um das Überleben des Planeten. Aber die Begegnung mit Seuchen berührt die Urängste vor dem Unsichtbaren, Unreinen, Unheimlichen. Macht den Infizierten potenziell auch zum Aussätzigen.
In dieser Situation ist Albert Camus’ Roman „Die Pest“ wieder ein Buch der Stunde. Für den französischen Nobelpreisträger war die 1947 geschriebene „Pest“, in der eine Stadt des 20. Jahrhunderts abgeschottet und unter Quarantäne gestellt wird, eine Allegorie auch der Zivilisationsbrüche der Moderne.
Der „Schwarze Tod“ kommt als Virus zugleich von innen, aus den Einzelnen und der Gesellschaft. Er tritt auf „zum Unglück und zur Belehrung der Menschen“, denn er stellt ihre Mitmenschlichkeit auf die Probe.
Camus zeigt dabei ohne apokalyptischen Grusel und voll nüchterner Rationalität, dass neben der Medizin weniger die gegenseitige Abschottung als vielmehr die gesellschaftliche Solidarität ein Mittel des Widerstands ist. Gegen Viren und Wirren, gegen sichtbare oder noch verborgene Schrecken. Das klingt hellsichtig, auch für heute.
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