Cannes Journal 2017 (8): Begehren und manische Wucht
Wie erweckt man einen Wettbewerb aus seinem Dämmerzustand? Unser Autor und Cannes-Korrespondent weiß es.
Man wäre in diesen Tagen gerne Mäuschen in der Jury. Gar nicht mal, um herauszufinden, welche Filme im Wettbewerb um die Goldene Palme die Nase vorn haben. In dieser Frage ist die Jury um Pedro Almodóvar wahrlich nicht zu beneiden. Es gibt klangvolle Namen wie Michael Haneke, Andrei Swjaginzew, Jacques Doillon, Naomi Kawase oder Sergei Loznitsa, die mit soliden Filmen angetreten sind. Andere Regisseure wie Arnaud Desplechin, Bong Joon-ho oder Michel Hazanavicius erwiesen sich als Totalausfälle. Nein, die Frage, die einen wirklich beschäftigt, lautet: Wie reden Netflix-Versteher Will Smith und Maren Ade wohl über das Kino? Kann man sich nach Kornél Mundruczós “Jupiter's Moon” anregende Diskussionen über Geflüchtete als Heiligenfiguren im kriselnden Europa vorstellen? Oder Gespräche über die Krise der bürgerlichen Familie, wie Michael Haneke sie in “Happy End” vorführt? Vielleicht macht man es sich aber auch zu einfach, von einem filmischen Gesamtwerk auf einen Filmgeschmack zu schließen. Jurys sind unberechenbar. Maren Ade, die letztes Jahr in Cannes trotz Favoritenrolle leer ausging, weiß das am besten.
Ade hat mit “Western” von Valeska Grisebach, bis jetzt einer der stärksten Beiträge im Hauptprogramm (der Reihe „Un Certain Regard“), einen Film produziert, der sich bei Genremotiven bedient. Und im Wettbewerb ist Sofia Coppola nun mit dem Western-Remake “The Beguiled” vertreten, das von weiblichen Begehren erzählt. Um eine Revision klassischer Genremotive geht es auch im fünften US-Film des laufenden Wettbewerbs, der das Teilnehmerfeld endlich mal ordentlich durchpustet. „Good Time“ von Joshua und Ben Safdie handelt von zwei Brüdern und einem Banküberfall, der furchtbar schiefgeht. Als der geistig behinderte Nick, gespielt von Ben Safide, von der Polizei gefasst wird, setzt Nick (Robert Pattinson als schmieriger Fuck-up) alles daran, seinen Bruder aus dem Polizeigewahrsam zu befreien. Doch jeder Rettungsversuch verschlechtert die Situation Nicks, der auf der Flucht einen aggressiven Überlebensinstinkt entwickelt.
Nächtlicher Abstecher auf den Rummelplatz
Die Safdie-Brüder machen aus dem „Hundstage“-Szenario eine Tour de Force, indem sie immer wieder – etwa beim nächtlichen Abstecher auf einen Rummelplatz – gekonnt das Tempo herausnehmen. Der harte, pulsierende Soundtrack von Oneohtrix Point Never verdichtet die Fluchtbewegungen zu kinetischer Energie. „Good Time“ besitzt eine manische Wucht, die im Arthousekino viel zu selten geworden ist. In Cannes wirkt er wie ein Gegenmittel gegen die vielen bemühten, oftmals überambitionierten Filme in der Konkurrenz. So gewinnt man vielleicht keine Goldene Palme. Aber man erweckt den Wettbewerb aus seinem Dämmerzustand.
Gute Ansätze zeigt in dieser Hinsicht auch Sergei Loznitsa mit seinem dritten Film „Krotkaya“ (A Gentle Creature). Das Verblüffendste an Loznitsa ist wohl, wie stark sich seine Spielfilme im Ton von seinen formal nüchternen, fast analytischen Dokumentarfilmen unterscheiden. „Krotkaya“ ist ebenfalls eine Tour de Force, genauer gesagt: die Odyssee einer namenlosen Frau in das Herz Russlands. Die Post sendet ein Paket zurück, das sie ihrem wegen Landesverrats verurteilten Mann ins Gefängnis geschickt hat. Um genaueres über sein Schicksal zu erfahren, sucht sie das Gefängnis persönlich auf. Ihre Reise führt sie durch ein Land, dessen äußerliche Zerfallserscheinungen an eine Mischung aus Andrej Tarkowski und Federico Fellini erinnern. Die fast stumme Frau wird zum Spielball der Bürokratie und einer sich langsam zersetzenden Solidargemeinschaft, in der jeder auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Loznitsa besitzt trotz allem einen guten Humor, was ihn wesentlich von seinem Landsmann Andrey Zvyagintsev unterscheidet, der im diesjährigen Wettbewerb den schweren Brocken „Nelyobov“ (Loveless) über die Suche eines Ehepaares nach ihrem verschwundenen Kind zeigt.
Plädoyer fürs Arthousekino
„Krotkaya“ hat dennoch einige Längen, die die zweieinhalb Stunden zu einer echten Belastungsprobe machen. Den bizarr-mäandernden Fluss seines letzten Films „My Joy“ gibt er auf für eine bohrende Inszenierung, die mit streckenweise quälend langen Szenen ohne Zuspitzung arbeitet. Viel mehr auf den Punkt kommt dagegen Kantemir Balagov mit seinem Debüt „Tesnoto“, einem weiteren bemerkenswerten Film in der Reihe „Un Certain Regard“. Balagovs Geschichte spielt in einer jüdischen Enklave an der Peripherie Russlands, in der noch raue Sitten herrschen.
Kurz nach seiner Hochzeit wird der jüngere Bruder der 24-jährigen Ilana entführt, was die Familie fast resignierend akzeptiert. Um das geforderte Lösegeld aufzutreiben, will der Vater seine Werkstatt verkaufen, die eigentlich Iliana übernehmen sollte. Die Eskalation innerhalb der Community lässt sie immer weiter von den Eltern, speziell der Mutter, fortdriften. Balagov findet außergewöhnliche Bilder für die Entfremdung des Mädchens, das sich gegen die Eltern, die Traditionen und den grassierenden Antisemitismus mit einem irren Selbsterhaltungstrieb auflehnt. Hauptdarstellerin Darya Zhovner besitzt die physische Präsenz einer Figur aus den Filmen der Dardenne-Brüder. Allerdings macht Balagov keine Anstalten, sich der Ästhetik des Sozialrealismus anzudienen. Seine Bilder brennen mit einer impressionistischen Poesie, gleichzeitig sind sie schmerzhaft konkret in ihrer Aufmerksamkeit für Details. Damit ist „Tesnoto“ ein hoffnungsvoller Kandidat für die Caméra d’Or, den Preis für das beste Regiedebüt. Und ein eindrucksvolles Plädoyer für ein Arthousekino, das sich nicht um arrivierte Formen schert.
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