Cannes Journal 2017 (6): Ach, Kindheit!
Der Terroranschlag von Manchester bewegt auch Cannes. Und das Programm? Die mitreißenden Filme laufen vor allem in den Nebenreihen.
Der Tag beginnt auch in Cannes mit der Schreckensmeldung aus Manchester, und es widerstrebt einem, in das Mantra derer einzustimmen, die einen Gewöhnungseffekt des Terrors vorhersagen. Auf dem Festival ist die Sorge vor Anschlägen omnipräsent, es gab diverse Verzögerungen wegen (falschen) Bombenalarms. Aber auf einmal relativieren sich all die Beschwerden über Sicherheitskontrollen und lange Wartezeiten. Man wundert sich vielmehr, dass der Betrieb trotz allem reibungslos läuft. Am Dienstagnachmittag legte das Festival eine Schweigeminute ein, die Leitung bekundete über die sozialen Netzwerke Trauer und Anteilnahme.
Und das Programm? Liefert im Wettbewerb wenig Gesprächsstoff. Die neuen Filme Hong Sangsoos und Naomi Kawases widersetzen sich immerhin dem Trend nach überambitioniertem Autorenkino. Die große Geste, die in Todd Haynes’ „Wonderstruck“ und „The Square“ von Ruben Östlund noch interessante Zugänge eröffnet, erweist sich im ungarischen Beitrag „Jupiter’s Moon“ von Kornél Mundruczó und Yorgos Lanthimos’ „The Killing of a Sacred Deer“ dagegen als Ausdruck blanker Selbstüberschätzung. Gute Ideen finden keine Form – oder umgekehrt. Viele Filme scheinen am Anspruch von Cannes als ganz große Bühne zu scheitern, der Berlinale-Wettbewerb wirkt da durchlässiger für die sogenannten kleineren Arthouse-Produktionen. Die mitreißenden Filme laufen an der Cote d’Azur darum eher in den Nebenreihen, etwa Sean Bakers „The Florida Project“ in der Quinzaine, der durchaus für die Goldene Palme taugte.
Die Mischung aus Sozialtopografie und Pop-Märchen erhöht den Pulsschlag. Dabei kommt „The Florida Project“ ohne große Stars aus – ausgenommen Willem Dafoe in einer tollen Nebenrolle als Hausmeister. Die sechsjährige Brooklynn Prince dominiert mit ihrer anarchischen Energie Bakers Film über eine junge Mutter und ihre Tochter, die am Rande von Disneyworld in einem Motelkomplex namens „Magic Kingdom“ leben. Was für Mutter Halley einen täglichen Überlebenskampf bedeutet, zeigt Baker aus der Sicht Monees und ihrer gleichaltrigen Freunde als knallig violettes Abenteuerland, in das – je mehr der Mutter die finanziellen Mittel ausgehen – die Wirklichkeit einsickert. Wie schon in der Transsexuellen- und Stricher-Komödie „Tangerine“ nimmt Baker konsequent die Perspektive seiner Protagonisten ein, um die letzten Momente einer Kindheit einzufangen.
Mindestens ebenso begeisternd Bruno Dumonts Film über die Kindheit Jeanne d’Arcs – erzählt als Musical mit so bizarren wie atemberaubend naturalistisch gefilmten Gesangseinlagen zwischen Teeniepop und Deathmetal. Dumont belässt es jedoch nicht bei bloßen Novelty-Effekten. „Jeannette, l’enfance de Jeanne d’Arc” funktioniert auch als kluge Satire auf Charles Peguys nationalistischen Paratext des Jeanne d’Arc-Mythos’, ohne die französische Ikone zu beschädigen. Cannes könnte mehr von diesem kindlichen Spirit vertragen. Nicht nur an Tagen wie diesen.