Olafur Eliasson in London: Begegnung mit dem Wunder der Natur
Klimawandel, Stadtraum und Luxusaufträge: Olafur Eliasson bespielt mit seinen Installationen die Tate Modern in London.
Sonnig ist es nicht an diesem Londoner Vormittag. Trotzdem lässt die Mutter den nur mit Windel und Gummistiefeln bekleideten Knirps in den Sprühregen des künstlichen Wasserfalls laufen, der sich auf dem Vorplatz der Tate Modern von einem zwölf Meter hohen Stahlgerüst ergießt. Britische Kids verkühlen sich eben nicht so leicht. Schnell kommen weitere Kinder hinzu, lassen sich kreischend nassregnen und von ihren entzückten Eltern mit dem Handy fotografieren. Sie sind scheinbar völlig unbeeindruckt von dem Sturz eines Sechsjährigen, den ein Jugendlicher am Sonntag von der Aussichtplattform der Tate gestoßen hat. Der Junge überlebte schwer verletzt. Die Plattform wurde gesperrt.
Der Betrieb geht trotzdem weiter. Nach Sydney, New York, São Paulo und Versailles hat Olafur Eliasson nun auch London ein temporäres Naturereignis verschafft. Nichts könnte seine rund 40 Werke aus den letzten 30 Jahren umfassende Retrospektive in der Tate Modern besser ankündigen. Sie ist vor allem eine Aufeinanderfolge spektakulärer Installationen, die Naturphänomene mit einer technische Versuchsanordnung darstellen, zugleich ihr poetisches Potenzial steigern. Staunen und Ratio verbinden sich.
Und ähnlich wie auf dem Vorplatz beim Wasserfall haben Kinder auch indoor die Ausstellung des dänisch-isländischen Künstlers fest in der Hand. Auf dem Weg durch einen 39 Meter langen Korridor, der so dicht mit Nebel gefüllt ist, dass der nächste Besucher schon nach wenigen Schritten im mal gelblich, mal bläulich waberndem Dunst verschwindet, kündigt von irgendwoher die kichernde Stimme eines Kindes „Here it comes“ an. Als wäre es das Setting eines Gruselfilms und keine Kunst. Die jüngsten Ausstellungsbesucher haben sofort begriffen, worum es Eliasson geht: das Erlebnis, die Erfahrung von Gemeinschaft, die Begegnung mit einem physikalischen Wunder der Natur an einem überraschend anderen Ort.
Die Briten haben ein besonderes Verhältnis zu Eliasson
Im zweiten Schritt sollte das Nachdenken kommen, was da draußen gerade mit unserem Klima passiert und welche Rolle der Mensch dabei spielt. „In Real Life“ lautet der Ausstellungstitel von Eliassons Retrospektive. Kinder trennen sowieso nicht, der Hinweis auf das reale Leben gilt den Erwachsenen als Verantwortlichen der Misere. Und wer es immer noch nicht verstanden hat, dem hilft die jüngst entstandene Installation „How Do We Live Together“, bestehend aus einem halben Stahlring, der zur verspiegelten Decke führt, auf die Sprünge. Im Spiegelbild schließt er sich zum Kreis und umfängt auf diese Weise auch die darunter stehenden Besucher. Immer wieder spricht der Künstler mit seinen Titeln den Betrachter direkt an, um ihn auf die richtige Fährte zu bringen.
Zweifellos ist der Eliasson-Auftritt wieder ein Erfolg. Die Briten haben ohnehin ein besonderes Verhältnis zu ihm, seit er ihnen vor 16 Jahren mit „The Weather Project“ in der Turbinenhalle der Tate Modern das wohl größte Kunstevent bescherte. Zwei Millionen Besucher pilgerten zu seiner aus Licht und Spiegellamellen konstruierten Sonne. Stundenlang lagerten vor allem junge Besucher auf dem Boden, beobachteten die Veränderungen ihrer Nachbilder an der Decke. Nicht nur für die nachfolgenden Künstler, die den Ort bespielten, änderten sich die Kategorien, sondern für die Kunstwelt insgesamt.
Mit der Retrospektive zieht er Zwischenbilanz
Mit Eliassons Tate-Auftritt 2003 war endgültig ein neuer Künstlertypus geboren, der eine gewaltige Werkstatt unterhält, um seine Ideen zusammen mit Ingenieuren, Designern, Architekten, Handwerkern zu realisieren und zugleich einen gesellschaftlichen Auftrag verspürt. So sprach Eliasson auf dem Klimagipfel in Davos mit Politikern, traf sich mit dem Dalai Lama. Ähnlich arbeitet auch Ai Weiwei, der sich seit seiner Übersiedlung nach Berlin Geflüchteten widmet. Beide Künstler kennen sich gut, sind Nachbarn. Ihre wie Kleinunternehmen geführten Manufakturen liegen nebeneinander in der ehemaligen Brauerei im Pfefferberg, beide gehören zur Galerie neugerriemschneider, deren Künstler sich durch soziale Interventionen auszeichnen.
Mit seiner Londoner Retrospektive zieht der inzwischen 52-Jährige nun Zwischenbilanz. Sie fällt verhaltener, weniger glanzvoll aus als bei seiner großen Schau vor neun Jahren im Berliner Gropius Bau. Damals wirkte der Künstler bis weit in die Stadt hinein, in der er Treibhölzer und Fahrräder mit Spiegelrädern verteilte. Die Säle des Gropius Baus, insbesondere den Lichthof bespielte er mit Grandezza. Viele Werke wie der Nebelkorridor, der Gang aus sich spiegelnden Metallelementen, die Fotoserien aus Island sind nun wieder zu sehen.
In den Räumen für Wechselausstellungen in der Tate Modern aber fehlt der Platz, alles erscheint zusammengeschoben: die charmante Wellenmaschine, die er Mitte der Neunziger schuf, die sich auftürmende Mooswand, das Fenster, an dem unablässig Regentropfen runterlaufen, die brennende Kerze auf einem runden Spiegel. Fast bedrückend wirkt der lichtlose Raum, der seiner Heimat gewidmet ist. Das ist umso bedauerlicher, als in dieser Ausstellung das Narrativ seiner Herkunft mehr als bisher bemüht wird: die gemeinsamen Sommer mit dem Vater in Island, wo er in atemberaubender Fülle Lava, Licht, Luft und Wasser als Material seiner späteren Kunst kennenlernte. Der emotionale Faktor, der für ihn ansonsten eine ebenso große Bedeutung wie das Erlebnis, die Erfahrung der Gemeinschaft, das Nachdenken über die Umwelt hat, vermittelt sich hier nicht.
Und ausgerechnet seinem berühmten Berliner Stück, dem 1995 bei der ersten Berlin-Biennale unter der Kuppel des Postfuhramtes kreisenden Ventilator, der ihn schlagartig bekannt machte, fehlt der Strom. Er hängt schlapp von der Decke des Treppenhauses. Umso prachtvoller erstrahlen daneben seine gewaltigen sphärischen Kugeln aus Stahl und farbigem Glas, die ihr gebrochenes Licht wie ein nach außen gewendetes Kaleidoskop rundum an die Wände werfen.
Der Künstler kennt die kritischen Einwände
Olafur Eliasson ist Minimalist mit wachsendem Hang zur Opulenz. Das hat ihn in den letzten Jahren für Puristen zunehmend suspekt gemacht, für Unternehmen, die bei ihm Kunst bestellten, umso attraktiver. Für die Münchner Luxus-Shoppingmall „Fünf Höfe“ entstand seine erste aus Stahlbändern geflochtene Kugel, für die Autostadt von Volkswagen in Wolfsburg ein Dufttunnel, für die 350 Filialen der Edelmarke Louis Vuitton eine eigene Lampe.
[Tate Modern, London, bis 5 . 1.; Katalog 19,99 Pfund. Die Reise nach London wurde durch Tate Modern unterstützt.]
Natürlich kennt der Künstler die kritischen Einwände, die auch erhoben wurden, als er 2018 unter dem Titel „Ice Watch“ 24 gewaltige Bruchstücke eines Gletschers, die aus dem grönländischen Nuup-Kangerlua-Fjord stammten, kreisförmig auf dem Gelände zwischen Themse und Tate Modern platzierte, um auf die schmelzenden Polkappen aufmerksam zu machen. Gewiss, die Inszenierung war wieder spektakulär, zigfach mit dem Handy fotografiert und online gestellt. Aber die Passanten erfuhren sehend, tastend, mancher sogar schmeckend, wie schnell ein Eisblock vergeht. Ein Erlebnis, das sich nicht ersetzen lässt.
Auch „The Cubic structural evolution project“ arbeitet mit diesem subversiven Effekt. In der Turbinenhalle sind zwei zehn Meter lange Tische mit den Umrissen der City aufgestellt, auf denen eine Tonne weißer Legosteine zum Konstruieren architektonischer Visionen einlädt. Ein Traum in London, wo im wahren Leben Investoren das Sagen haben. Bei Eliasson aber sitzen Kinder und Erwachsene einträchtig beieinander und bauen an einer Fantasiewelt. Wäre doch schön.