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Leonardos Zeichnung „Autoritratto“ könnte ein Selbst- oder Philosophenporträt sein.
© Musei Reali Torino

Zeichnungen von Leonardo da Vinci: Augen der Renaissance

Die Zukunft zeichnen: Im Jubiläumsjahr präsentiert eine Turiner Ausstellung Leonardo da Vinci als genauen Naturbeobachter.

Was für ein Blick, den die junge Frau aus den Augenwinkeln zurück über ihre Schulter wirft. Was für ein Blick, den der alte Mann aus den tiefen Augenhöhlen unter seinen buschigen Brauen in eine unbekannte Ferne richtet. Es sind zwei der eindringlichsten Zeichnungen Leonardos, die sich mit elf weiteren Blättern sowie dem berühmten Kodex über den Vogelflug im Besitz der Biblioteca Reale in Turin befinden. Sie bilden das Herzstück der exquisiten Jubiläumsausstellung „Drawing the Future“ zum 500. Todestag des großen Renaissancekünstlers, die ergänzt um Werke berühmter Zeitgenossen derzeit in den Königlichen Museen in Turin zu sehen ist.

Die zwischen 1480 und 1515 entstandenen Zeichnungen wurden 1839 von König Carlo Alberto erworben, 1893 kam der Kodex über den Vogelflug als Schenkung von Theodor Sabachnikov an König Umberto I. hinzu. Das Konvolut umfasst somit Leonardos Schaffenszeit der mittleren bis späten Jahre und zeigt die gesamte Bandbreite seiner Interessen und Begabungen, die ihn als Uomo universale der Künste und Wissenschaften auszeichnen. Im intimen Medium der Zeichnung wird unmittelbar anschaulich, wie sehr seine künstlerischen wie wissenschaftlichen Studien auf genauesten Naturbeobachtungen, dem systematischen Katalogisieren von Phänomenen und empirischen Analysieren von Ursache und Wirkung beruhen. Dabei führen sie die gesamte Komplexität der natürlichen Welt von Anatomie und Mechanik, Hydraulik und Botanik, Zoologie und Optik, Physiognomie und Geologie vor Augen. Einige der Turiner Zeichnungen sind mit berühmten Gemälden verbunden: die Aktstudien von Kriegern mit dem nie vollendeten und verlorenen Wandgemälde der Anghiarischlacht, die Pferdestudien für die nie realisierten Reiterstandbilder der Sforza und Trivulzio, aber vor allem die herausragende Mädchenkopfstudie, die in Haltung und Ausdruck auf den Engel der ersten Fassung der Felsgrottenmadonna verweist.

Entlang der zentralen Themen und Genres der Renaissance – Antikenrezeption, Körperstudium, Reiterstandbilder, Paragone (Wettbewerb der Künste), Selbstporträt, idealisiertes und reales Porträt – lässt sich Leonardo aufs Schönste mit seinen großen Zeitgenossen wie Botticelli, Bramante, Boltraffio, Michelangelo, Pollaiuolo und Raffael vergleichen. Die Antikenrezeption ist bei ihm immer mit einer Revision und Neuformulierung verbunden, die auf seinen Beobachtungen der realen Welt und eigenen Erfahrungen beruht. Darum bleiben die konkreten Quellen meist verborgen und sind nicht klar identifizierbar. So zeigt sich seine Rötelzeichnung eines männlichen Profils mit Lorbeerkranz, entstanden zwischen 1506 und 1510, als Kombination eines idealisierten heroischen Typus nach antikem Vorbild und einem realistischen Porträt.

Die Frage nach Leonardos Aussehen hat Kunsthistoriker beschäftigt

Lebenslang hat sich Leonardo mit monumentalen Reiterstandbildern beschäftigt, sein Hauptinteresse galt weniger der Repräsentation des Herrschers als der Muskulatur und Haltung des Pferdes. In der Körperdarstellung erweist er sich als Naturforscher, der seine Beobachtungen durch anatomische Studien am lebenden Modell und das Sezieren von Leichen vertiefte. Seine Aktstudien für die Anghiarischlacht von 1505 gleichen eher anatomischen Zeichnungen für einen Medizinatlas. Michelangelo hingegen beweist in seiner berühmte Aktstudie von hinten aus demselben Jahr seine außergewöhnliche Begabung, durch Kreuzschraffur eine lebensechte Körperlichkeit sinnlich und kraftvoll abzubilden. Ein gemeinsames Vorbild lässt sich in dem großen Blatt der Schlacht zwischen nackten Männern von Pollaiuolo von 1460/70 ausmachen, das zu den frühesten und berühmtesten Radierungen der Kunstgeschichte zählt. Besonders aufschlussreich ist aber Leonardos kleine Studie zur Proportion des Gesichts und des Auges von 1490. Sie zeigt, dass für den Naturbeobachter der Sehsinn der wichtigste der fünf Sinne und das Auge das primäre Instrument der Erkenntnis war. Als „Fenster zur Seele“ ermöglicht es vor allem im Porträt eine psychologische Durchdringung, die im Englischen und Italienischen in der Doppelbedeutung des Begriffs „sehen“ zum Ausdruck kommt: to see = sehen und verstehen.

Die Frage nach Leonardos Aussehen hat Generationen von Kunsthistorikern beschäftigt. Die Turiner Rötelzeichnung mit den langen, welligen Kopf- und Barthaaren von 1517/18 gilt den einen als das einzige Selbstporträt im hohen Alter, andere datieren sie deutlich früher, zwischen 1490 und 1495, und identifizieren sie als Kopf eines Philosophen, möglicherweise Aristoteles oder Heraklit. Über die Jahrhunderte verbinden sich beide Möglichkeiten zu einer Art idealem Selbstporträt, das mit den äußeren Beschreibungen seiner Zeitgenossen zusammenpasst und zu einer Ikone des Renaissancemenschen schlechthin geworden ist. Unerwähnt bleibt, dass auch die Eigenhändigkeit der Zeichnung von Experten wie Martin Kemp und Hans Ost angezweifelt oder gar ins 19. Jahrhundert datiert wird. Der schlechte Erhaltungszustand mag die Spekulationen um das wolkige Blatt begünstigen, das in der Hauptstadt des Piemont an das Turiner Grabtuch denken lässt. Auf die kühne Gegenüberstellung mit Selbstporträts des 20. Jahrhunderts von Salvo, Luigi Ontani und Alberto Savinio hätte man lieber verzichtet.

Das junge Mädchen, das über die Schulter zugleich in Vergangenheit und Zukunft blickt, ist eine Vorstudie zum Engel Uriel in der „Felsengrottenmadonna“.
Das junge Mädchen, das über die Schulter zugleich in Vergangenheit und Zukunft blickt, ist eine Vorstudie zum Engel Uriel in der „Felsengrottenmadonna“.
© Musei Reali Torino

Den Höhepunkt der Ausstellung bildet zweifellos der Raum der Porträtzeichnungen, die zu den wichtigsten Aufgaben in Leonardos Schaffen gehörten. Dem idealisierten Porträt steht das nach dem lebenden Modell gezeichnete gegenüber, das bei ihm stark nach Alter, Charakter, Ausdruck differenziert ist. Ein auf Kontrast angelegtes Paradebeispiel sind die Profilstudien eines alten und jungen Mannes, die sich rivalisierend Brust an Brust gegenüberstehen, um den Gegensatz zwischen der Schönheit der Jugend und dem Verfall des Alters zu demonstrieren.

Eine der feinsten Zeichnungen Leonardos in psychologischer Hinsicht

Lebensecht und idealtypisch zugleich ist die bezaubernde Kopfstudie des jungen Mädchens, die nicht nur den Entwurf für den Engel der Felsgrottenmadonna bildet, sondern auch Ludovico Sforzas Geliebten Cecilia Gallerani, der „Dame mit dem Hermelin“ von 1490 ähnelt. Nur mit wenigen Linien und zartem Helldunkel ist das feine Gesicht mit dem Silberstift eingefangen, das dem amerikanischen Renaissancekenner Bernard Berenson als das schönste Porträt der Welt galt. Es ist eine der feinsten Zeichnungen Leonardos in psychologischer Hinsicht, der Spontaneität der Pose und Lebendigkeit des Blicks, der kaum verhüllt von ihren leicht niedergeschlagenen Augenlidern den Betrachter direkt anschaut. Ihr Blick aus den Augenwinkeln zurück über die Schulter birgt das große Geheimnis des Blattes, das Geheimnis einer jungen Frau, die sich ihrer selbst gewiss ist. Ob nachdenklich, kritisch, melancholisch, neugierig, prüfend oder skeptisch – der Schulterblick ist immer zugleich Rückblick auf das, was war, in Erwartung dessen, was noch kommt. Es ist ein Blick, der dem Gegenüber standhält und die Zukunft vorwegnehmen möchte.

Dass Leonardo in vielerlei Hinsicht die Zukunft zeichnend vorwegzunehmen wusste, das zeigt aber vor allem der dem Kodex über den Vogelflug gewidmete Raum. Die gebundene Sammlung von 18 Blättern im Format 15 x 21 cm mit wissenschaftlichen Schriften, Notizen, Skizzen und Zeichnungen enthält seine Beobachtungen über das Flugverhalten der Vögel sowie Skizzen und Pläne zum Bau von Fluggeräten. Mit Recht darf Leonardo somit als Begründer der Bionik gelten, wenngleich die gescheiterten Flugversuche vom Monte Ceceri, bei denen sich sein Assistent Bein und Rippen brach, in den Bereich der Legende gehören.

„Drawing the future“ zeigt Leonardo nicht als Universalgenie, sondern als Visionär, der sich den Blick in die Zukunft zeichnend erarbeitete.

Leonardo da Vinci, Disegnare il futuro, Musei Reali, Galleria Sabauda, Turin, bis 14. Juli 2019

Dorothea Zwirner

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