Da-Vinci-Jubiläum: Leonardos Bücheruniversum
Von wegen einsames Genie! Forscher rekonstruieren die umfangreiche Bibliothek des Meisters aus Vinci.
Im Werk Leonardo da Vincis verbinden sich Kunst und Wissenschaft in einzigartiger Weise. Zeichnend studierte er die Funktionsweise des menschlichen Körpers und den Vogelflug, die Strömungsverhältnisse in Gewässern und die Beschaffenheit des Mondes. Er ersann überdimensionale Armbrüste, Musikautomaten und Flugapparate. Seine Handschriften füllten mehr als 20.000 Seiten. Bei alldem bemerkte er nicht ohne gewissen Stolz, er sei ein „omo sanza lettere“, ein unbelesener Mann. Sein Wissen beziehe er nicht aus den Lehren anderer, sondern aus der Erfahrung, womit er den Mythos vom einsamen Genie beförderte.
Ein neugieriger Bücherjäger
Aus den 7000 Manuskriptseiten, die heute noch, verteilt auf mehrere Codices und Länder, von ihm erhalten sind, gewinnen Forscherinnen und Forscher nach und nach ein anderes Bild: das eines Büchersammlers, manchmal sogar Bücherjägers. Am Mittwoch trafen sich Experten anlässlich des 500. Todestags Leonardos zu einem internationalen Symposium, zu dem das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und die Italienische Botschaft nach Berlin eingeladen hatten. Dabei verdichteten sich die mühsam rekonstruierten Verbindungen des Renaissancemenschen zu zeitgenössischen Gelehrten und antiken Autoren zu einem engmaschigen Netz, gesponnen aus Leonardos unersättlicher Neugier und seinem steten Bemühen um intellektuellen Austausch.
Leonardo war Visionär und Kind seiner Zeit. Jürgen Renn, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut, stellte zunächst die Frage in den Raum: „Was war das für eine Kultur, die einen Menschen wie ihn hervorbrachte?“
Der Schöpfer der Mona Lisa wurde im Jahr 1452 im toskanischen Vinci geboren. Zur selben Zeit fingen tausend Kilometer nördlich die ersten Druckerpressen an zu arbeiten. In Mainz hatte Johannes Gutenberg die Schrift in ihre 26 Buchstaben zerlegt und mit Hilfe von wiederverwendbaren Matrizen völlig gleichförmige Bleitypen hergestellt. Auf einem Holzbrett konnte er sie Zeile für Zeile zu jedem gewünschten Text zusammenlegen.
Als Leonardo zwölf Jahre alt war, brachten zwei Deutsche den Buchdruck nach Italien. Ihre Druckerei im Benediktinerkloster von Subiaco verlegten sie 1467 in die Heilige Stadt. Allein in Rom wurden in den kommenden drei Jahrzehnten eine halbe Million Bücher gedruckt. Zur Jahrhundertwende gab es in Italien bereits 150 Druckereien.
Nutznießer einer Medienrevolution
„Leonardo lebte zur Zeit einer Medienrevolution“, erzählte Renn und meinte damit nicht nur die rasante Vervielfältigung von Büchern infolge der neuen Drucktechnik. Im Zuge des Humanismus wurden zudem griechische Werke ins Lateinische und lateinische Werke in die Volkssprachen übersetzt. Leonardo profitierte besonders davon.
Im Alter von vielleicht dreizehn Jahren zog er als Lehrling in die Werkstatt des Florentiner Malers und Bildhauers Andrea del Verrocchio ein. Tatsächlich begann er seine Karriere als „omo sanza lettere“, beherrschte weder die lateinische Sprache, noch war er mit den Klassikern vertraut. Seine vielfältigen Ideen brachte er zeichnerisch zum Ausdruck.
Bestanden die frühen Manuskripte vorwiegend aus Illustrationen, kamen nach und nach Textbausteine hinzu. Später habe sich das Verhältnis umgekehrt, sagte der Wissenschaftshistoriker Paolo Galluzzi aus Florenz, der über die Digitalisierung der Leonardo-Manuskripte informierte. „Da füllte Leonardo ganze Seiten mit Text und ergänzte diesen um kleine Zeichnungen.“ Ein Spiegel dieser Entwicklung ist Leonardos Bibliothek. Leider ist heute nur noch ein einziges Buch auffindbar, das handschriftliche Notizen von ihm enthält: ein Traktat über die Architektur von Francesco di Giorgio Martini. Leonardo besaß zwei verschiedene Ausgaben dieses Buches, freundete sich mit dem Ingenieur aus Siena an und schöpfte Ideen aus dessen Werken. Ein Beispiel dafür: ein Wagen, der sich mit einer Handkurbel antreiben lässt.
Im Jahr 1478 listete Leonardo eine Reihe von Namen in seinem Notizbuch auf, unter ihnen „Benedetto de l’ Abaco“, der das Rechnen mit arabischen Ziffern lehrte, und „maestro Pagolo Medico“, mit richtigem Namen Paolo Toscanelli, Arzt, Mathematiker und einer der bedeutenden Kartografen seiner Zeit, der Kolumbus dazu ermunterte, den Westweg nach Indien zu wählen. Die Namen bringen eine Veränderung im Leben des 26-Jährigen zum Ausdruck: seinen Wunsch, sich Zugang zur Mathematik und zur Gelehrtenwelt zu verschaffen.
Latein und Mathe gebüffelt
Dieser Wunsch wurde stärker, als er Florenz verließ und nach Mailand ging, um sich am Hof Ludovico Sforzas als Militäringenieur, Maler und Bildhauer zu etablieren und Feste und Umzüge zu organisieren. Fortan verkehrte er mit zahlreichen Humanisten. Und so taucht in einem kleinen Bücherverzeichnis aus dem Jahr 1487 erstmals eine lateinische Grammatik auf.
Acht Jahre später stellte Leonardo eine Liste aus 40 Büchern zusammen, noch immer fast ausnahmslos italienische Ausgaben, wie der Literaturwissenschaftler Carlo Vecce aus Neapel erläuterte. Doch mit nunmehr über vierzig Jahren begann Leonardo, Latein zu büffeln und seinen Schreibstil zu schulen. Er legte Vokabellisten mit Tausenden von Worten an.
Vecce kann im Detail nachzeichnen, wie Leonardos Bibliothek wuchs und wuchs, wie lateinische Titel hinzukamen und wie die Naturphilosophie und die Mathematik allmählich ins Zentrum seiner Interessen rückten. Dass er bereit gewesen sei, dicke Bretter zu bohren, bezeuge etwa eine Ausgabenliste aus dem Jahr 1495: „68 nella Cronica/ 61 in Bibbia/ 119 in Aritmetrica di maestro Luca/ 248“. Neben einer Weltchronik und der Bibel führt Leonardo als teuerstes Buch die frisch gedruckte „Summa de Arithmetica“ des Mathematikers Luca Pacioli auf. Ein zu anspruchsvolles Kompendium der Mathematik für den „omo sanza lettere“?
Leonardo hatte das Glück, dass Pacioli ein Jahr später nach Mailand kam. Von da an ließ sich der Künstler von ihm in Geometrie unterweisen, studierte die Bücher Euklids, versuchte sich an der Quadratur des Kreises, entwarf Zeichnungen regelmäßiger Vielecke für ein weiteres Buch Paciolis. In Zahl und Maß sah er fortan den Urgrund der Malerei und der Wissenschaften. Ein Zeugnis davon: seine genaue Vermessung des menschlichen Körpers und die berühmte Proportionszeichnung nach Vitruv.
Kein Nerd, sondern modebewusst und beredt
Mitte der 1960er Jahre brachte ein Zufallsfund in der Nationalbibliothek in Madrid zwei Codices ans Licht, die neue Einblicke in seine Bibliothek gewähren. Zurück in Florenz, wollte Leonardo im Sommer 1503 einige Kisten in einem Kloster abstellen. In einer davon bewahrte er seine Garderobe auf.
Leonardo gefiel die Konversation mit Fürsten und Höflingen. Er kleidete sich wie sie nach der neusten Mode. Seine Kleidertruhe enthielt einen Umhang aus Taft, kurze Mäntel für die Reise mit Kapuze und weiten Umschlägen, ein rosafarbenes katalanisches Gewand, einen dunkelvioletten Mantel mit samtener Kapuze, einen weiteren aus violettem Kamelott, rosa, violette und schwarze Strümpfe, ein Hemd aus Reimser Seide, zwei rosenfarbige Barette und einiges mehr.
In einem weiteren Verzeichnis führt er 18 Bücher mit derselben Destination wie die Kleidungsstücke auf: „in cassa al munisterio“. Dazu eine Liste mit nunmehr 98 Buchtiteln, darunter Aesops Fabeln, Ovids Metamorphosen und europäische Bestseller wie das „Narrenschiff“ von Sebastian Brant, Werke aus Kunst, Technik und Medizin. Eine Auswahl aus der schließlich mehr als 200 Bände umfassenden Bibliothek Leonardos wird in diesem Sommer in einer Ausstellung im Museo Galileo in Florenz zu sehen sein und im kommenden Jahr in der Berliner Staatsbibliothek.
Galluzzi zufolge war Leonardo am Ende seines Lebens selbst ein Humanist, ein „uomo di lettere“. Seine eigenen Manuskripte brachte er nie als Druckwerke heraus, weder seine Schriften zur Malerei noch seinen wertvollen anatomischen Atlas, mit dem er dem Arzt Andreas Vesalius zuvorgekommen wäre. Doch sie bezeugen auf faszinierende Weise, wie weit ein Mensch kommen kann, der sich von seiner Neugier treiben lässt.
Den neuesten Forschungsergebnissen nach zu urteilen, sind sie außerdem ein Lehrbeispiel dafür, was die allgemeine Verfügbarkeit von Wissen in Gang zu setzen vermag. Diesen allgemeinen Zugang zu Wissen fördern und es nicht etwa in überteuerten Fachpublikationen versickern zu lassen, bleibt eine große Herausforderung der derzeitigen Medienrevolution.
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