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Mehl, Kaffee, Kurkuma. Mit dem Pulver sehen die Tänzer der Kompagnie von Lia Rodrigues alle gleich aus.
© Sammi Landweer

Brasilien-Festival im Hebbel am Ufer: Auf den Barrikaden

Die Stimmung im Land ist aufgeladen: Das HAU präsentiert beim Festival „Projeto Brasil“ Tanz, Theater, Ausstellung, Installationen.

Die Anfangsszene hat fast etwas Mythisches: In „For the Sky Not To Fall“ halten elf Tänzer gemahlenen Kaffee in ihren Händen. Dann pusten sie kräftig und bestäuben sich mit dem aromatischen Pulver. Die dunklen Körnchen bedecken Bauch und Wangen, kleben in den Haaren und Wimpern. Den Kaffee hat die Kolonialmacht Portugal mitgebracht, heute ist er eines der wichtigsten Exportgüter Brasiliens. Hier verwandelt er die Performer in fremde, archaisch anmutende Wesen. Er überdeckt die Unterschiede des multiethnischen Ensembles.
Zu ihrem neuen Stück „For the Sky Not To Fall“ hat sich die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues unter anderem vom kosmo-ökologischen Denken des Schamanen Davi Kopenawa anregen lassen, der als Anführer der Yanomami einige Bekanntheit erlangt hat. Die Aufführung ist beides: theatrales Ritual und Happening. Bald lösen die Tänzer sich aus der Gruppe, wandern durch die Zuschauermenge und suchen den Blickkontakt. Unverwandt schauen sie einen an – was schwer auszuhalten ist. Aber in der direkten Begegnung lösen sich alle Fantasmagorien des Fremden bald in Luft auf.
Später bemalen die Tänzer sich mit roter Farbe. Auch Mehl und Kurkuma kommen ins Spiel, nach diversen Transformationen waschen sie sich die Einfärbungen wieder ab, um sich am Ende alle im selben Rhythmus zu bewegen. Darum geht es vor allem in „For the Sky Not To Fall“: um die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Die Schwarzen, Weißen und Mestizen gehen im Kollektiv auf, ohne ihre Individualität zu verlieren. Lia Rodrigues lässt nicht nur Raum für Assoziationen, ihre Stärke besteht darin, dass sie die Zuschauer unmittelbar anspricht und alle Sinne aktiviert.

Das Festival versammelt kreative Formen des Widerstands

Rodrigues’ Stück eröffnet an diesem Dienstag das Festival „Projeto Brasil“ im Berliner Hebbel am Ufer (HAU 2, 20 Uhr, wieder am 8.6., 18.30 Uhr und 21.30 Uhr). Anlässlich der Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro haben sich fünf international agierende Produktionshäuser zusammengeschlossen, um das Festival auf die Beine zu stellen. Neben dem HAU sind auch das Europäische Zentrum der Künste in Dresden-Hellerau, Kampnagel Hamburg, das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main und und das Tanzhaus NRW in Düsseldorf beteiligt. Gemeinsam präsentieren sie (gefördert von der Kulturstiftung des Bundes) zeitgenössische künstlerische Positionen aus dem viertgrößten Land Südamerikas. Hier stellt sich das andere Brasilien vor, jenseits von Samba, Karneval und Caipirinha. Lauter Künstler, die Experten sind für kreative Formen des Widerstands, wie die fünf Intendanten betonen.
Das Quintett hatte Brasilien schon nach den Protesten gegen die Fußball-WM in den Blick genommen. Dass sich die Situation so dramatisch zuspitzen würde wie jetzt nach der Suspendierung von Staatspräsidentin Dilma Rousseff, sei jedoch nicht absehbar gewesen. Die Stimmung unter den Künstlern ist aufgeladen. Gemeinsam haben sie einen Brief veröffentlicht, in dem sie den sofortigen Rücktritt der „illegitimen Regierung“ fordern. Alle 24 Minister der Interimsregierung von Michel Temer sind nun männlich und weiß – das treibt die Künstler auf die Barrikaden. Sie sehen das emanzipatorische politische Projekt in Gefahr, auf das auch der Festivaltitel „Projeto Brasil“ anspielt. Das Kulturministerium und das Ministerium für Frauen, Rassengleichheit und Menschenrechte sind bereits aufgelöst worden.
Der Protest wird in diesen Tagen häufiger nach Europa getragen. So hatte beim Filmfestival in Cannes das Team des brasilianischen Wettbewerbsfilms „Aquarius“ (das selber eine Widerstandsaktion zum Thema hat) den Roten Teppich kurzerhand zu Demozwecken umfunktioniert und beim Gruppenfoto Zettel gezückt, mit denen sie die Absetzung der linken Präsidentin Dilma Rousseff als „Staatsstreich“ kritisierten. „Die Demokratie ist abgeschafft,“ lautete eine der Aufschriften.
Auch Lia Rodrigues ist wütend. Sie lässt nach den Aufführungen ein Manifest verlesen, in dem es heißt: „Wir werden den Kampf für die Menschenrechte und für einen demokratischen Rechtsstaat in Brasilien nicht aufgeben.“ Sie gilt nicht nur als eine der wichtigsten Choreografinnen ihres Landes, sondern hat sich längst auch mit politischem und praktischem Engagement einen Namen gemacht. Mit ihren Tänzern ging sie 2009 in eine der größten Favelas in Rio und eröffnete dort zusammen mit dem Entwicklungsnetzwerk Redes ein Proben- und Kulturzentrum, das Centro de Artes da Maré. Was ihre Arbeitsweise stark veränderte: Ihre Stücke erarbeitet sie seitdem zusammen mit den Tänzern. Mittlerweile gehören dem Ensemble auch Performer aus der Favela an. „Als zeitgenössische Künstlerin in Brasilien zu arbeiten, ist Widerstand per se“, erklärt Rodrigues und lacht. Ihre Company kann nur dank deutscher und französischer Koproduzenten überleben.

Tanz, Vodoo, indigene Sprachenvielfalt: Das zehntägige Festival setzt Akzente

Brasilienfieber statt EM-Rausch: Vom9. bis 19. Juni ist in den drei Häusern des HAU ein ambitioniertes Programm aus Tanz, Theater, Ausstellung, Installationen, Konzerten und Diskussionen zu erleben. Alice Ripoll stellt in „Suave“ das jüngste Tanzphänomen Brasiliens vor: den Passinho, der sich durch die illegalen Baile-Funk-Parties von Rio aus verbreitete und Elemente von Breakdance, Samba, Frevo, Kuduro und des Voguing kombiniert (10./11.6., HAU 1). Ein Wiedersehen gibt es mit der Gruppe Cena 11, die halsbrecherische Performances vorführt (18./19.6., HAU 1), auch will das Festival auf die Situation der indigenen Bevölkerung aufmerksam machen. Mit der Klanginstallation „Indigenous Voices“, die auf die gefährdete Sprachenvielfalt des Kontinents hinweist, oder auch mit einer Installation des Künstlerkollektivs Opavivará! vor dem HAU2: In einer achteckigen Holzstruktur können Besucher in 16 Hängematten abhängen oder sich aus medizinischen Kräutern einen Tee mixen lassen.

Infos: www.hebbel-am-ufer.de

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