zum Hauptinhalt
Auch Hauptdarstellerin Maeve Jinking (Mitte) des brasilianischen Films "Aquarius" protestierte gegen Dilma Rousseffs Absetzung.
© dpa

Cannes Journal (6): Der rote Teppich als Demo-Plattform

Das Team des brasilianischen Films "Aquarius" protestiert auf dem Filmfestival Cannes gegen die Absetzung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff. Außerdem im Wettbewerb: ein brillanter Film von Brillante Mendoza.

Nicht, dass Thierry Frémaux sichtbar nervös wirken würde - der stets energisch freundlich auftretende Festivalchef hat auch ein Pokerface in petto. Durchaus zügig aber weist er nun dem Team des brasilianischen Wettbewerbsfilms „Aquarius“ den Weg von den roten Stufen, die die Filmwelt bedeuten, hinauf in den Kinosaal. Wo es, unter dem Jubel des Publikums, erneut zu einem nicht ganz protokollgemäßen Vorfall kommt.

Was ist passiert? Die Brasilianer hatten am Dienstag nachmittag beim traditionellen Gruppenfoto plötzlich Zettel gezückt, mit denen sie gegen die Absetzung der linken Präsidentin Dilma Rousseff protestierten. Vom „Staatsstreich“ war auf den DIN A4-Blättern die Rede, und: „Die Demokratie ist abgeschafft.“ Einer der Beteiligten knöpfte vor dem herbeigeeilten Frémaux sogar kurz sein Frackhemd auf - und darunter kam, oha, ein Che-Guevara-T-Shirt zum Vorschein.

Politische Filme sind dem Festival gewiss nicht unwillkommen - dass aber in der cineastischen Hochkunstzone und auch noch im Saal handfest demonstriert wird, verletzt die Etikette empfindlich. So verzichtete auch das Lokalblatt „Nice matin“, das täglich seitenweise Festivalfotos bringt, auf eine Abbildung der „Aquarius“-Aktion. Die Botschaft ist sonnenklar: Schön auf dem - roten - Teppich bleiben, liebe Filmkünstler!

Immerhin feiert Regisseur Kleber Mendonça Filho selber die Widerständigkeit in seinem zweiten Spielfilm auf unmissverständliche Weise. Sônia Braga, die Grande Dame des brasilianischen Films und der Telenovelas, spielt eine prominente Sachbuchautorin, die sich im Alter mit großer Würde gegen vielerlei behaupten muss. Da ist die Einsamkeit neben ihren erwachsenen Kindern, und da ist vor allem die Baugesellschaft, die sie aus ihrer Eigentumswohnung an der Strandpromenade von Recife vertreiben will.

Clara ist die letzte Bewohnerin eines niedrigen Blocks, der einem Hochhaus weichen soll. Als sie nicht auf Geldangebote eingeht, gehen ihre Gegner zu unsubtilen Aktionen über - von der Beschmierung des Hausflurs mit Kot bis zur Zerstörung leerstehender Wohnungen durch Termiten. Die selbstbewusste Witwe aber hält an ihrem jahrzehntelangen Zuhause fest, in dem sie auch mal einen Gigolo empfängt oder, stets kultiviert, Rotwein aus großen Gläsern trinkt. Und eines Tages holt sie, unterstützt von Freunden, zum - zumindest symbolischen - Gegenschlag aus.

"Ma'Rosa", ein atemberaubender Film von Brillante Mendoza

Der Film steht ganz auf der Seite seiner Hauptfigur, und das macht ihn bei aller Vitalität nach einer Weile schmal, ja schal - weil er den Zuschauer zu fest unterhakt. Ähnlich ging es, zu Beginn des Festivals, Ken Loach mit „I, Daniel Blake“: Sein von Dave Johns gespielter Zimmermann droht nach langer Krankheit aus dem sozialen Netz zu fallen, bleibt aber selber stets ein Vorbild ohne jeden Riss. Bis zu einem platt plakativen Schluss, als sei man nicht schon vorher deutlich genug gewesen.

Ein Gegenbeispiel im diesjährigen Palmen-Wettbewerb: „Ma'Rosa“ aus den Philippinen. Rosa (Jaclyn Jose) betreibt mit ihrem Mann einen kleinen Laden im Marktgewirr von Manila. Die Einkünfte bessert man mit dem Weiterverkauf von Mini-Mengen Crystal Meth auf, und eines Nachts werden die beiden denunziert und festgenommen. Der atemberaubende Film von Brillante Mendoza zeigt nun ohne jede Rhetorik, wie in einem völlig korrupten kapitalistischen System die Kaution für das Paar zustande kommt. Und danach? Nichts weiter als ein Atemholen, ein Filmbild für immer.

Zur Startseite