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Das Duo Gheist bei seinem Set im Watergate.
© /Arte

Clubkultur in der Coronavirus-Krise: Auf dem virtuellen Dancefloor

Die Berliner Clubszene hat ihre Partys ins Netz verlegt. Auf der neuen Plattform United We Stream laufen jeden Abend Livestreams. Ein Auftaktbesuch im Watergate.

Es ist 19 Uhr, das Homeoffice wird beendet, Zeit fürs Abendessen, ein weiterer turbulenter Tag in diesen unsicheren Zeiten geht zu Ende. Angela Merkel hält ihre Rede an die Nation, das erste Glas Wein wird eingeschenkt und die Berlinerin DJ Jamiee beginnt mit dem ersten Geister-Set im Berliner Watergate Club.

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Ohne Publikum vor dem DJ Pult – dafür mit knapp 4000 Zuschauerinnen und Zuschauern auf dem Facebook Livestream. Im Laufe des Abends werden es mehr und mehr. Über Youtube, Facebook und die neue Plattform United We Stream kommen insgesamt rund eine Million Streams zusammen.

Rund 9.000 Club-Mitarbeitende sind betroffen

Am Mittwoch feierte der größte digitale Club der Welt seine Premiere in den Wohnzimmern von Menschen auf der ganzen Welt. Aufgrund der Coronaprävention steht das Berliner Nachtleben still, alle Clubs sind geschlossen. Was für viele Berliner eine Zwangspause vom Feiern bedeutet, ist für andere existenzbedrohend.

Die Berliner Clubkultur steht vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte: Durch den Shutdown sind mehr als 9.000 Mitarbeitende und zehntausend Kunstschaffende schlagartig ohne Beschäftigung, viele der Clubs fürchten ihren Ruin.

Doch es wäre nicht die Berliner Clubszene, würde sie auf diese Herausforderung keine kreative Antwort finden. Innerhalb kürzester Zeit vernetzte sie sich und organisierte die Plattform United We Stream.

Kater Blau, Tresor und Griessmühle sind dabei

In Zusammenarbeit mit vielen Einzelakteuren und in Kooperation mit Arte entwickelte das Bündnis Reclaim Clubculture und die Clubcomission Berlin den virtuellen Club. Ab jetzt kann man jeden Abend von 19 Uhr bis Mitternacht DJs in Berliner Clubs wie dem Kater Blau, dem Tresor oder der Griessmühle per Livestream zuschauen. Ohne langes Anstehen, ohne Zittern vor dem Türsteher – aber leider auch ohne Freunde auf dem Dancefloor. 

Der Berliner DJ Claptone legt schon seit Jahren in der Verkleidung eines Pestarztes auf.
Der Berliner DJ Claptone legt schon seit Jahren in der Verkleidung eines Pestarztes auf.
© Promo

Am Anfang fühlt es sich noch ein bisschen seltsam an, alleine mit seinem Glas Wein auf den Bildschirm zu schauen, doch das dynamische, energiegeladene Set der Berlinerin Jamiee lässt einen nicht lange ruhig sitzen.

Die ersten Nachrichten von Freunden trudeln ein: „Schaust du auch den Livestream? Mich macht das gerade glücklich und traurig zu gleich. Wer weiß wann wir das nächste Mal zusammen frei tanzen können im Club?“

 Entspannte Sounds und schwarzer Humor

Als der bekannte DJ Claptone die Turntables übernimmt, muss man kurz lachen: Die venezianische Pestarztmaske, der Zylinder und seine weißen Handschuhe -  ein Kostüm mit dem er schon seit Jahren auftritt – wirkt in diesen Zeiten zugleich passend und ein wenig schräg. Schwarzer Humor, wer weiß wie lange das noch geht. Das Kollektiv Gheist sorgt anschließend mit seiner Mischung aus Live-Elementen, Gesang und ruhigeren Beats für einen entspannten Sound – perfekt für alle, die jetzt langsam ins Bett müssen.

Zwischen den einstündigen Sets werden immer wieder Schrifttafel eingeblendet. Hinweise zum Händewaschen und zur sozialen Distanzierung sind zu lesen. „Verhaltet euch solidarisch und bleibt gesund – gemeinsam stehen wir das durch! #FlattenTheCurve“, ist da beispielsweise zu lesen.

Nun übernimmt die Techno-Ikone Monika Kruse, ihr nach vorne drängender Sound, treibt einen endgültig von der Couch und auf den heimischen Dancefloor. Und wenn man die Augen schließt, lässt sich für einen Moment der Stress des Tages wegtanzen und die Welt dort draußen vergessen.

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Zwischendurch kann man sich den Spendenaufruf von United We Stream durchlesen. Es ist möglich, eine Einzelspende zu geben oder Fördermitglied zu werden, wofür man eine digitale Clubmarke erhält. Am ersten Tag sind bereits über 100.000 Euro von 3143 Personen zusammengekommen. „Das ist ein toller Erfolg“ sagt Lutz Leichsenring von der Clubcomission. „Allerdings weiß man, dass die Kurve bei solchen Aktionen meisten zu Beginn sehr stark ausschlägt.“ In den nächsten Tagen werde sie wohl etwas abflachen.

Spenden für die notleidenden Clubs

Im Online Shop kann man zudem Fan-Artikel erwerben oder ein virtuelles Wasser oder Bier trinken. Die Einnahmen fließen in eine Sammlung, mit der die notleidenden Clubs und Künstler unterstützt werden sollen. Über die Verteilung des Geldes entscheidet eine unabhängige Jury.

Zudem gehen acht Prozent der Einnahmen an den „Stiftungsfond Zivile Seenotrettung“. Damit setzt die Berliner Clubszene eine zusätzlich  solidarisches Zeichen: „Es geht nicht nur um uns - Solidarität brauchen viele!“, teilt das Bündnis mit.

Die Nachrichtenlage rückt während der gestreamten Sets aus dem Watergate ein wenig in den Hintergrund, die allgegenwärtige Unsicherheit vermischt sich mit Glücksgefühlen. Kurz träumt man sich in bessere Zeiten. Eskapismus war schon immer Teil der Techno-Bewegung, ein Effekt der sich auch am heimischen Bildschirmen einstellt.

Online-Clubs bald auch in anderen Städten

Als Monika Kruse von Yulia Niko abgelöst wird, die zum Finale nochmal richtig Gas gibt, klatschen sie sich unbeholfen ab. Die alten Gesten funktionieren nicht mehr, die neuen sitzen noch nicht richtig. Zum Abschluss des Abends tanzen die beiden zusammen mit einer anderen Frau gelöst hinter dem DJ Pult, mit Abstand versteht sich. Sie scheinen froh, den ersten Geistergig überstanden zu haben.

Obwohl die Tanzfläche vor ihnen leer war – eigentlich die Horrorvision jedes DJs – hat den im Watergate auflegenden Künstlerinnen und Künstlern der Abend gefallen, so Lutz Leichsenring. Die Clubcomission plant nun, ihr Online-Party-Idee auch in andere Städte zu tragen.

Denn eines wurde an diesem Abend deutlich: Die Berliner Clubszene lässt sich so schnell nicht unterkriegen. Sie ist es gewohnt gegen Widerstände zu kämpfen und zeigt ihre Innovationskraft und Flexibilität. Wenn es hart auf hart kommt, zeigt sie sich solidarisch. Eine Eigenschaft von der viele in diesen schwierigen Zeiten lernen können.

Also geht der einsame Tanz zu Hause weiter – bis wir uns alle auf dem Dancefloor wiedersehen.
(Mitarbeit: Nadine Lange)

Jana Kamm

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