Julian Barnes' Schostakowitsch-Roman: Ansichten eines Akrobaten
Julian Barnes versetzt sich mit „Der Lärm der Zeit“ in die Seele von Dmitri Schostakowitsch, der unter Stalin komponierte. Ein kluger, in einigen Punkten anfechtbarer Roman.
Dmitri Schostakowitsch ist einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, seine Streichquartette gehören zu den größten des Genres. Biografie und Werke überragen die Epoche, zugleich sind sie zutiefst verstrickt in diese. Das notorische Thema im Zusammenhang mit ihm ist deshalb das Verhältnis von Musik und Macht, Sinfonie und Ideologie, Widerstand und Kollaboration.
Allerdings lässt sich die Frage, wie es Schostakowitsch im Innersten mit Stalin und der Sowjet-Macht gehalten hat, letztgültig nicht beantworten. Wie weit ist den Briefzeugnissen aus einer Welt zu trauen, in der Verstellung und Camouflage den Ton bestimmten? „Er lügt wie ein Augenzeuge“, lautet ein berühmtes Bonmot von Schostakowitsch, der sich auf Schweigen und Ironie verstand. Welche Äußerungen sind buchstäblich zu nehmen? Auskunft könnte nur ein Blick in den Kopf des Komponisten geben – und genau das ist offenbar der Reiz, der Julian Barnes bei seiner biografischen Fiktion angetrieben hat. Der Autor, 1984 mit dem Roman „Flauberts Papagei“ bekannt geworden und seit Langem einer der renommiertesten britischen Schriftsteller, verzichtet in „Der Lärm der Zeit“ weitgehend auf szenische Entfaltung einer Handlung. Stattdessen lässt er die Schostakowitsch-Figur skrupulös räsonieren über das Verhältnis zur Sowjetdiktatur. Drei Teile hat der Roman; sie liegen jeweils ein Dutzend Jahre auseinander und stehen für drei Epochen in der Geschichte der Sowjetunion.
Die innere Welt Schostakowitschs bleibt unangefochten
1937, im Schreckensjahr der Säuberungen und Schauprozesse, verbringt Schostakowitsch zehn schlaflose Nächte der Angst. Mit gepacktem Koffer wartet er auf das Geräusch des Fahrstuhls, das die Männer vom NKWD ankündigt. Seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ ist gefeiert worden, ein internationaler Erfolg. Dann hat Stalin eine Vorstellung besucht. Der Modernismus entsprach nicht seinem Geschmack, außerdem besaß der ungarische Dirigent, wie Schostakowitsch verärgert feststellte, zu viel „Schaschlik-Temperament“, und zu allem Übel befand sich die gepanzerte Loge Stalins direkt über den Blechbläsern. Einige Tage später erschien in der Prawda ein vernichtender Artikel über die Oper, den der Diktator womöglich selbst diktiert hatte: „Chaos statt Musik“. Der Komponist hat das Gefühl, ein toter Mann zu sein – und überlebt wohl nur, weil der Geheimdienstler, der ihn verhaften will, kurz zuvor selbst verhaftet wird.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht eine Kultur-Konferenz 1949 in New York. Schostakowitsch nimmt an ihr auf Drängen Stalins teil. Der Diktator ruft ihn sogar persönlich an; eine große Szene. Als offizielles Mitglied der sowjetischen Delegation hält er dann eine in Sowjet-Ideologie getränkte Rede. Hier teilt sich die Figur auf charakteristische Weise: Der äußere Schostakowitsch leiert mit lustloser Stimme vorformulierten Parteiphrasen herunter und markiert so zumindest für die Zuhörer im Saal seine Distanz zum Inhalt der Rede, die der innere Schostakowitsch unterdessen mit einer ironisch-kritischen Kommentarspalte versieht. Immer wieder erweist sich der Komponist bei Barnes als Akrobat des Gewissens, mit dem man sich als Nachgeborener gut identifizieren kann. Gewiss, er muss Kniefälle absolvieren und Demütigungen durchstehen, aber nur als Tribut an die äußere Welt, die innere bleibt unangefochten. Deshalb sympathisiert man mit ihm und seiner List, selbst in erniedrigenden Momenten.
Man kann nicht ironisch in eine Partei eintreten
Erst im dritten Teil – 1960 in der Ära Chruschtschow – zeigen sich wirkliche Risse in der Integrität. Man wird nun nicht mehr so schnell erschossen oder abgeholt, aber die Epoche des „Tauwetters“ kennt andere Schäbigkeiten. Unter Stalin hat die Macht den Komponisten darauf geprüft, wie weit sein Mut reiche, jetzt lotet sie aus, wie weit seine Feigheit geht. Schostakowitsch ist ihren Verlockungen ausgesetzt, wird Vorsitzender des sowjetischen Komponistenverbands, ein Vorzeigekünstler und lebender Beweis für die „Selbstkritik“ des Systems. Seine hohe Position erfordert aber den Eintritt in die Partei, den er bisher standhaft vermied und als Sündenfalls seines Lebens begreift. Feigheit und Selbstironie erscheinen ihm nun als die Leitmotive seines Lebens. Aber, so die bittere Einsicht, auch Ironie kommt an eine Grenze. Man kann nicht ironisch in eine Partei eintreten, man kann nicht Briefe, Artikel und Verleumdungen unterschreiben und darauf hoffen, dass andere zur Auffassung kommen, das sei ja alles gar nicht so gemeint. Je größer die Gewissensqual des Komponisten, desto größer allerdings auch seine Verärgerung über die linken Schönredner aus dem Westen, die dem Kommunismus Reverenz erweisen und schon Stalin internationale Reputation verschafft haben. Etwa George Bernard Shaw. Nach seinem Besuch der Sowjetunion wurde er auf den Hunger im Land angesprochen und erwiderte: Alles unwahr, ich habe gut gegessen.
Julian Barnes ist ein großer Stilist, der Prosa von scheinbar müheloser Prägnanz schreibt. Umso erstaunlicher, dass er gewisse Unstimmigkeiten der Erzählperspektive ignoriert hat. Sie ist eng an die Schostakowitsch-Figur gebunden; ein personales Erzählen in Er-Form, das sich sehr gut eignet, um einer Figur beim Denken zuzuschauen. Zudem lässt es sich in Richtung der allwissenden Erzählperspektive öffnen, um Informationen einzufügen, die nicht im Horizont der Figur sind oder sich in deren Reflexion gerade nicht plausibel vermitteln ließen. Diese Öffnung muss allerdings behutsam geschehen, um keine Brüche zu erzeugen. Je ausführlicher in diesem Roman jedoch von Politik die Rede ist, desto mehr droht aus der personalen Er-Erzählung ein essayistisches Parlando zu werden, das sich von der Rollenprosa der Schostakowitsch-Figur entfernt und eher als Stimme des Autors Julian Barnes wahrgenommen wird, der aus sicherer Distanz mit der Diktatur abrechnet. Das klingt dann weniger überzeugend.
Barnes hat keine Mühe auf Musikbeschreibungen verwandt
Der Roman hält sich eng an die biografischen Quellen. Es gibt nur wenige Dialogszenen; einige hat Barnes fast wörtlich übernommen aus dem Buch „Shostakovich – a Life Remembered“ von Elizabeth Wilson, der er im Nachwort Dank abstattet. Von einer Form „höheren Abschreibens“ kann man hier sprechen – so hat Thomas Mann sein Erzählen anhand von Vorlagen und Quellen genannt. Beim „Doktor Faustus“ hat er den Musikphilosophen Adorno eingespannt, der ihm half, die Zwölftonkompositionen Adrian Leverkühns zu Wort- und Begriffsmusik auf der Höhe der Ästhetischen Theorie der Moderne zu machen. Ein aktuelles Beispiel für einen Roman, dem es gelingt, musikalische Qualitäten in Sprache zu übertragen, ist „Orfeo“ von Richard Powers; er handelt von einem Komponisten und Biowissenschaftler, der DNA-Strukturen in musikalische Patterns umsetzt. Ein Buch mit inspirierten Musikbeschreibungen. Darauf hat Julian Barnes leider keine Mühe verwandt. Das wäre eine unverzeihliche Lücke, wenn er von einem fiktiven Komponisten schriebe, ohne dessen Wirken literarisch zu beglaubigen. Bei Schostakowitsch ist der Mangel weniger gravierend, weil dessen Werke ein Teil der kulturellen Realität sind: Referenzen, die sich abrufen lassen.
Nicht von Musik also ist in diesem klugen Roman die Rede, sondern von Politik und Geschichte. Vom „Lärm der Zeit“, der nach Jahrzehnten zum „Flüstern der Geschichte“ wird. So leise, dass manche es gar nicht mehr hören. Deshalb ist es gut, dass Julian Barnes dieses in einigen Punkten anfechtbare Buch geschrieben hat. Es führt eindringlich die Schrecken und Versuchungen des Totalitarismus vor Augen, passend für unsere Gegenwart, die es womöglich mit neuen Erscheinungsformen des Totalitarismus zu tun bekommt.
Julian Barnes: Der Lärm der Zeit. Roman. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 246 S., 20 Euro
Wolfgang Schneider
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