Dimitri Schostakowitsch: Klassiker für das 21. Jahrhundert
Dimitri Schostakowitsch ist der Komponist der Stunde: Russlands berühmtester Dirigent Valery Gergiev führt in Baden-Baden fünf von dessen 15 Sinfonien auf und zeigt, dass in der Musik mehr steckt als Hitler und Stalin.
Man kann nicht behaupten, dass Valery Gergiev nicht wüsste, was Macht bedeutet. Mit Putin ist der 56-Jährige auf Du und Du, im Georgienkrieg gab er mit seinem Orchester im zerbombten Zchinwali ein Gedenkkonzert für die russischen Opfer, und auch im sommerlichen Baden-Baden hat Russlands berühmtester Dirigent immer ein Auge darauf, dass daheim alles nach Plan läuft. Heute falle die Entscheidung, wer das neue, zweite Opernhaus von St. Petersburg bauen werde, erklärt der Maestro – nachdem er für sein Orchester vor erst vier Jahren den Bau eines eigenen Konzertsaals durchsetzte und inzwischen sogar ein eigenes CDLabel gestartet hat, macht die neue Spielstätte Gergievs Mariinsky-Theater endgültig zum dominierenden Klassik-Kombinat der Föderation.
Wer so nah an den Schalthebeln der Macht ist, hat zur Musik ein anderes Verhältnis als einer, der Opfer war. Bezogen auf die Sinfonien Dmitri Schostakowitschs, aus denen die Dirigenten vorangegangener Generationen vor allem die Bedrohung des Individuums durch Diktatur und Staatsgewalt herausgehört haben, steht Valery Gergiev gewissermaßen auf der anderen Seite. Fünf von dessen 15 Sinfonien hat er in Baden-Baden zum Zyklus gebündelt: ein repräsentativer Querschnitt, der zeigen soll, dass in der Musik mehr steckt als Hitler und Stalin. „Schostakowitschs Sinfonien leiden, weil jeder sofort an ihre politische Dimension denkt. Dabei sind sie viel mehr als ein politisches Statement – nämlich lebendige, schöne, natürliche Musik“, beteuert Gergiev. Die Aufführungen der Schostakowitsch-Dirigenten der ersten Generation wie Ewgenji Mravinsky seien zwar großartige Dokumente, aber eben auch Zeugnisse einer Zeit, in der die Menschen die politischen Bezüge der Musik aus eigener Erfahrung gekannt hätten. Und so sehr er diese Aufnahmen verehre, sei nun die Zeit gekommen, Schostakowitsch seinen Platz als Klassiker zu sichern.
Tatsächlich scheint die Frage nach einem Schostakowitsch-Bild für das 21. Jahrhundert in der Luft zu liegen. Dirigenten wie Simon Rattle und Kent Nagano (beide so alt wie Gergiev) haben in den letzten Jahren eine mildere, lyrischere Perspektive versucht, und auch das Musikfest Berlin wird sich im September dieser Aufgabe stellen. Nachdem die persönlichen Weggefährten des Komponisten wie Mravinsky, Kurt Sanderling und Rudolf Barschai über Jahrzehnte eine Art Deutungshoheit besaßen und die Interpretation der Sinfonien durch den gemeinsamen, von Weltkrieg und Sowjetära bestimmten Horizont von Musikern und Publikum vorgeprägt war, sind diese Bilder nun langsam verblasst. Sind die Sinfonien am Ende nur ein emotional aufgeladener Soundtrack einer untergegangenen Epoche? Oder stecken in ihnen zeitlose Werte, auf die einer wie Gergiev offenbar abzielt?
Während in Berlin durch die Konfrontation mit Schlüsselwerken des 60erJahre-Avantgardisten Iannis Xenakis versucht wird, Schostakowitsch als Komponisten der Moderne zu etablieren, macht Gergiev freilich das Gegenteil: Er blickt zurück und will die Bezüge zeigen, die die Sinfonien mit Beethoven und Tschaikowsky, Mussorgski und Wagner verknüpfen.
Die selten gespielte 13., „Babi Jar“-Sinfonie für Bass, Männerchor und Orchester etwa klingt im Baden-Badener Festspielhaus wie eine Fußnote zu Mussorgskis „Boris Godunow“: ein pastoses Breitwandgemälde, das nicht auf schlichte Trauer und lakonischen Witz setzt, sondern mit Bolschoi-Pathos beeindrucken will. Ohnehin greift Gergievs Klassikerinitiative hier am wenigsten, wohl auch, weil die 13. schon durch ihre Texte am explizitesten an die Zeitumstände erinnert.
Der Zyklus zeigt, dass Gergievs politfreie Schostakowitsch-Interpretation noch im Entstehen begriffen ist: Wirkt die Fünfte mit ihren oft verhetzten Tempi nervös, zerfällt die zackig expressionistische Erste, die Gergiev als heiter gelöste „Sinfonie classique“ angeht, in Mosaiksteinchen. Die allerdings schillern oft in den leuchtendsten Farben – der Schlüssel zu Gergievs Schostakowitsch-Lesart liegt vor allem im Klang seines Mariinsky-Orchesters: den fabelhaften Streichern mit ihrer daunenweichen Fülle, den kantablen, legatoseligen Holzbläsern und dem strahlenden Blech, das die finale Apotheose der „Leningrader Sinfonie“ in kalter Pracht erstarren lässt.
In der siebten, während der Belagerung Leningrads durch die deutschen Truppen geschriebenen Sinfonie kommt Gergiev seinem Ziel denn auch sehr nahe: Statt pointierter Zackigkeit und elektrisierendem Dringlichkeitston à la Mrawinksy herrschen im Kopfsatz ausgespielter Stumpfsinn und penetrante Banalität – das Marschthema im Kopfsatz klingt nicht mehr nach Hitler, sondern nach Ballermann sechs. Und es ist nur konsequent, dass das Finale nicht mehr wie erzwungener Jubel wirkt, sondern wie die gleißende Vision der Glas- und Stahlpaläste des neuen Putin-Russlands.
Noch mehr bestätigt allerdings die letzte, 15. Sinfonie Valery Gergievs Glauben, Schostakowitschs Musik habe mehr zu erzählen als die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Sowjetimperiums. Diese leere, minimalistische Dreiviertelstunde, die so oft als Protokoll gesellschaftlicher Erstarrung gedeutet wird, macht Gergiev zu einer zutiefst resignativen Abschiedsmusik eines Sterbenden.
Am Ende hängt dieses Leben nur noch am seidenen Faden der fortspinnenden Geigenstimme. Doch die Wärme, die die Mariinsky-Streicher diesem immer schwächeren Lebenssignal einhauchen, lässt bis zum Schluss jenen Funken Hoffnung, dass sich alles doch noch zum Guten wenden könnte. Dass es allein dieser Glaube ist, der uns aufrechterhält. So klingt ein Klassiker. Ab 3. September hoffentlich auch beim Musikfest Berlin.
Jörg Königsdorf
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