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Ist das nicht pure Musik? Extreme Nahaufnahme einer DNA-Doppelhelix.
© mauritius images / Ikon Images

Richard Powers und sein Roman "Orfeo": Die Süße nie gehörter Melodien

Richard Powers erzählt in seinem Roman „Orfeo“ die Lebensgeschichte eines Komponisten, der als Bioterrorist vom FBI gejagt wird, und lauscht dem Klang von DNA.

Das Elend der Neuen Musik ist selbst für geschulte Ohren unüberhörbar. Keine andere Kunst hat sich so tief in ein Ghetto begeben, dessen Bewohner nicht einmal mehr Ausbruchsträume zu hegen scheinen. Noch trostloser ist nur der Populismus eines klassischen Musikbetriebs, dessen Museumswärter sich taub stellen gegen jeden aufregenden Ton, der aus der Gegenwart zu ihnen dringen könnte – und oft schon aus den Weiten des 20. Jahrhunderts. Wo ihnen jede Form ästhetischer Reflexion fehlt, da herrscht unter vielen zeitgenössischen Komponisten übertheoretische Befangenheit. Ein unhaltbarer – und uneinholbar gewordener – Fortschrittsgedanke drückt ihnen aufs Gemüt und führt zu übersteigerter Komplexität. Einig sind sich die Fraktionen höchstens im Desinteresse an popmusikalischen Entwicklungen. Zumindest hier schweißt die gemeinsame Herkunft doch noch zusammen.

Dies, in etwa, ist die faktische Lage, ungeachtet der Beerdigung des Avantgarde-Begriffs, ungeachtet aller Konzertsaaldidaktik mit Sandwichprogrammen – und ungeachtet aller Musiker, die etwas Drittes im Sinn haben. Peter Els, der 70-jährige Komponistenheld von Richard Powers’ elftem Roman „Orfeo“, hat noch etwas Viertes im Sinn, nämlich die Verwandlung von musikalischen Strukturen in biologisch-chemische Muster.

Was ihm mit Noten nie befriedigend gelungen ist, versucht er nun im Heimlabor mit der DNA-Manipulation von Bakterien. Motto: „Melodien, die man hört, sind süß, aber die ungehörten sind noch süßer.“ Doch aus der Sackgasse der Neuen Musik hat er sich nur in eine neue Sackgasse begeben, aus der es keine Umkehr gibt: Das FBI jagt Els fälschlicherweise als Bioterroristen. Nach einem kopflosen Notruf wegen seiner verendenden Hündin Fidelio entdecken Beamte in der Wohnung die Gerätschaften des Hobbygenetikers – und später ein gerahmtes osmanisches Notenmanuskript aus dem 16. Jahrhundert.

Ein Roman über die Selbsterstickung der Neuen Musik

„Orfeo“ verfolgt mindestens drei Themenstränge. Die amerikanische Paranoia, die sich zehn Jahre nach 9/11 noch immer Bahn bricht, verleiht dem Roman seine düstere Energie – und die Flucht vor den Behörden, die Peter Els antritt, schenkt ihm den Spannungsrahmen. Die Reflexionen über die natürlichen Grundlagen von Musik bilden den zeitgemäßen Überbau, der, wenn man etwa an Michael Zev Gordons Genom-Stück für Chor „Allele“ (2010) denkt, keineswegs ausgedacht ist. Einzigartig ist Powers jedoch als Kulturhistoriker einer kompositorischen Entwicklungslogik, die sich nach und nach ad absurdum führt – und im chronologischen Rückblick auf Els’ Karriere parallel läuft zum aktuellen Geschehen. So lebendig und in allen handwerklichen Details treffend hat sich noch kein Romancier der Selbsterstickung der Neuen Musik gewidmet.

Das Urschisma des 20. Jahrhunderts benennt er dabei mit Igor Strawinsky, dem Neoklassizisten, und Arnold Schönberg, dem Zwölftöner, und auf der Grundlage von Rebecca Rischins Studie erzählt er mitreißend, wie Olivier Messiaens unter abenteuerlichen Bedingungen entstandenes „Quatuor pour la fin du temps“ 1941 in einem Görlitzer Kriegsgefangenenlager zu einem der geschichtlich letzten Stücke Musik wird, die in einem unmittelbar existenziellen Sinn etwas bedeuten – auch wenn die Mitgefangenen den Kopf darüber schütteln. Diese Musik hat für den alten Peter Els über jeden immanenten sense hinaus noch meaning, während er die Uraufführung von John Cages „Musicircus“, die er 1967 an der University of Illinois in Urbana-Champaign miterlebt, wo Powers bis zu seinem Wechsel nach Stanford lehrte, nur noch als groteskes Happening erlebt.

"Orfeo" könnte ein Symphonie von Gustav Mahler sein

Powers schlägt einen großen Bogen von Pérotin zu Bach und von George Crumb zu Steve Reich, und obwohl seine Musikgeschichte notwendig fragmentarisch bleibt, ist Els’ Einsicht, dass der Einzelne immer im Hier und Jetzt lebe und nicht für die Ewigkeit, doch ein Argument für das Recht auf eine Schönheit, die nicht einfach von Verstörungsimperativen verdrängt werden kann.

Ließe sich der historische Stand von Richard Powers’ Erzählen mit dem des Els’schen Komponierens vergleichen, das er in fiktiven Werken erschafft, wäre „Orfeo“ vielleicht eine Symphonie von Gustav Mahler, dessen „Kindertotenlieder“ das Herz des 70-jährigen Helden noch ebenso erschüttern wie das des 18-jährigen. Els, mit seinem Gesang längst in eine biologische Unterwelt abgewandert, hört in ihnen den „Keim zu einer Freiheit, die noch nicht fertig mit ihm ist“. Powers ist mit den mimetischen Möglichkeiten des Romans ebenso wenig am Ende, und im Ausmalen technologischer Umwälzungen wie der Komponiersoftware Sibelius, die ganze Ausbildungswege überflüssig macht, beweisen sie ihre Tragfähigkeit. Hinreißend auch Els’ Begegnung mit einer musikverstöpselt joggenden iPhone-Queen auf der Suche nach ihrer persönlichen Klangdroge: Da wird das Selbstverständliche noch einmal erhellend fremd.

Irritierend dennoch, dass daraus keinerlei ästhetische Folgen erwachsen. „Orfeo“ ist motivisch solide durchgearbeitet, entfaltet sich langsam und stetig in der szenisch reichen Darstellung von Peter Els’ lebens-, liebes- und familiengeschichtlichem Zusammenhang, und hält bei alledem an der Subjektivität (und damit Expressivität) von Kunst fest. An die Ermüdung der Form, die Els, den Musiker, aufs Feld der Biologie treibt, reicht es nicht heran. Powers’ Erzählmotor gerät nicht einen Moment lang ins Stocken.

Das Illusionistische des 19. Jahrhunderts, kombiniert mit den Themen des 21. Jahrhunderts: Diese Spannung müssen alle von Powers’ Romanen aushalten. Sie gilt für den zuletzt erschienenen Genom-Roman „Das größere Glück“ wie für die „Gold Bug Variations“, den nächsten Verwandten von „Orfeo“.

1991 erschienen und bis auf Auszüge im „Schreibheft“ nie ins Deutsche übersetzt, bringt er, ausgehend von einem frühen Molekularbiologen, in einer narrativen Doppelhelix zwei Liebesgeschichten mit Bachs Goldberg-Variationen und Edgar Allan Poes Kurzgeschichte über den „Goldkäfer“ zusammen. Nur sitzt diesmal durch den Diskurs über Neue Musik ein besonderer Stachel im Stoff. Man muss Powers’ Konservatismus immerhin zugute halten, dass er sich nicht zugleich auf seine musikalischen Interessen erstreckt und in Radiohead oder Björk eine polyrhythmisch-dissonante Intelligenz am Werk sieht, die sogar Els nicht leugnen kann.

Vertraut wirkt „Orfeo“ auch durch Powers’ Schlingern zwischen den philosophischen Positionen von – vereinfacht gesagt – Materialismus und Idealismus. Indem er Musik einerseits vollständig naturalisiert, betreibt er puren Reduktionismus: Sinnvolle Töne basieren auf aktualisierten und modifizierten biologischen Patterns. Indem ihn andererseits die Frage nach der Seele von Musik umtreibt, trägt er zu einer Mirakulisierung des schöpferischen Prozesses bei.

Els, mit seinen musikalischen Hervorbringungen immer epigonal geblieben, gibt zu, auf dieses Dilemma selbst nie eine tragfähige Antwort gefunden zu haben – wobei Powers den Idealisten stets ein winziges Stück höher als den Materialisten zu stellen scheint. Es folgt deshalb allein aus der Figurenlogik, dass Peter Els ins biologische Fach wechselt. Aber auch das tut er ja nur halbherzig.

Das Tweet-Konzert, das er gegen Ende seiner Flucht hinausschickt ins Internet, ist bestenfalls die programmatische Beschwörung künstlerischer Möglichkeiten, nicht deren Realisierung. Eine Aktion an der Grenze zur Verrücktheit, abseits jeder Konzeptkunst. Der Preis, den er damit für ein Werk entrichtet, das so nie entstehen wird, ist hoch. Dafür bleibt er, fern jedes offenkundigen Alter Ego, ein Bewohner im erzählerischen Reich von Richard Powers. Der zieht in „Orfeo“ seinerseits alle Register, die ihm zur Verfügung stehen. Das inspirierende Ergebnis halten wir in Händen.

Richard Powers: Orfeo. Roman. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014. 492 Seiten, 22,99 €.

Gregor Dotzauer

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