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Udo Jürgens singt in der Arena am Ostbahnhof.
© dpa

Udo Jürgens in Berlin: "Mitten im Leben": Am Ende siegt der Bademantel

Udo Jürgens gastierte auf seiner „Mitten im Leben“-Tour vor einem Monat auch in Berlin - und das Publikum lag ihm zu Füßen. Eine schöne Dame stürmte sogar die Bühne. Lesen Sie hier noch einmal die Kritik über Jürgens letzten großen Auftritt in der Hauptstadt.

„Eine faschistoide Regierung“, sagt er, „kann immer wieder passieren. Es kann sehr nahe kommen.“ Daher gehe unsere Privatsphäre keinen Menschen, schon gar keinen Staat etwas an. Sein gut frisierter Kopf erscheint auf der Riesenleinwand nun in Schwarz-Weiß – im Sucher einer fiktiven Überwachungskamera namens „Predator Sky Eye Delta“. Nun füllt eine Stimme aus flüssigem Karamell die Halle: „Die Welt im Apple- und iPhone-Wahn / Und Rechner wissen mehr als wir. / Sie sind gnadenlos auf der Datenspur. / Wo du auch bist – sie folgen dir.“

Was geht hier vor? Ist dies die Jahreshauptversammlung des Chaos Computer Clubs? Nein. Hier tragen die Damen ihre schönste Feinwäsche, die Herren Krawattennadel. Es herrscht Sektlaune, und man klatscht im Takt der sensationellen Bigband von Pepe Lienhard zu „Der gläserne Mensch“.

Der 80-Jährige Udo Jürgens führt momentan die Airplaycharts an

Obwohl seiner Ansicht nach Netzwerke nicht sozial sind: „Udo JürgensOffizielle Facebookseite“ hatte am Sonntag um 12 Uhr (16.11.14, Anm. d. Red.) immerhin 67.208 Likes. Und echt wahr, der 80-jährige Klagenfurter mit Wohnsitz in Zürich, Songwriter für Shirley Bassey und Sammy Davis jr., führt momentan die deutschen Airplaycharts an. Einem Smudo steht das Einstecktuch eben nicht so gut.

Udo Jürgens nutzt die erste Hälfte seines beinahe dreistündigen Auftritts, um dringend allerhand loszuwerden. Du bist selbst verantwortlich für das, was du tust. Hör auf zu jammern. Setz dir kleine Ziele. Lass die Jungen ihr Ding machen. Wachse über dich selbst hinaus. Lass Kinder Kinder sein. Und eine Erkenntnis, die nicht nur Sprechakttheoretiker in ihren Bann zieht: Achte auf deine Worte, denn was du sagst, wird wahr. Sein Ausrufezeichen ist der rechte Arm. Er reißt ihn nach oben, der Zeigefinger ist der höchste Punkt. Bämm. Das hat gesessen.

Ein Erlöser, das hat er in der Fernsehdoku „Der Mann, der Udo Jürgens ist“ gesagt, wolle und könne er nicht sein. Doch wenn im Publikum bei „Der gekaufte Drache“ oder später den großen Sehnsuchts-Krachern Tränen fließen, dann ist Jürgens doch wenigstens ein Putzmann der geheimen Gefühle. Einer, der das Innerste poliert – auch wenn es schmerzt.

Berlin liebe er, das hat er gleich zu Anfang klargestellt. 80 Prozent seiner Schallplatten habe er in den Studios an der Köthener Straße aufgenommen, erzählt er. Ach nee, heute heiße das ja „CD“ – oder etwa auch schon nicht mehr ... Plaudereien, in denen es um den technischen Fortschritt oder seine Schwierigkeiten mit der Monogamie geht, kommen besonders gut an. Er kann sich das leisten.

Die Security führt eine schöne Dame von der Bühne

Und swingt er, unterhält er? Bewegt sich Udo Jürgens, neben aller Nachdrücklichkeit der Botschaften, noch wie die frauenfangende Raubkatze von 1973? Zwei Momente gibt es außerhalb der festgelegten Choreografie der „Mitten im Leben“-Tour. Einmal erklimmt eine schöne Dame die Bühne und marschiert geradewegs auf den Flügel zu. Jürgens guckt erst überrascht, dann kichert er, fast ein bisschen verlegen. Sie wird von der Security abgeführt. Das andere Mal stimmt er gemeinsam mit einem kanadischen Sänger den Sinatra-Klassiker „How About You“ an. Er lässt vollkommen locker, als spüre er, wie gut ihm der Song tut. Eine Freude, dabei zuzusehen.

Der zweite Teil der Show steht ganz im Zeichen der alten Schlager. „Ich glaube, es passt jetzt ganz gut, wenn wir ein paar Oldies spielen“, meint ein frisch geschminkter Jürgens und nimmt schnell einen Schluck Tee. Tausend Mal wird er erlebt haben, was jetzt passiert. Das Publikum im Innenraum erhebt sich von den Stühlen und läuft zunächst gemäßigten Schrittes, dann immer rascher nach vorne an den Bühnenrand. „Griechischer Wein“ beginnt so leise, dass man meint, das Blumenpapier auf dem Flügel knistern zu hören. Die „Gastarbeiter“-Hymne bleibt unter ihren dramaturgischen Entfaltungsmöglichkeiten und gerät gerade deshalb zu einem Höhepunkt des Abends. Die Routine macht Pause. Wo mag das Reservoir an Premierengefühl sein, aus dem der Mann schöpft?

Am Ende siegt der Bademantel

Irgendwann zwischen „17 Jahr, blondes Haar“ und „Mit 66 Jahren“ legt Udo Jürgens die Jacke ab. Da kann er noch so sehr auf die Großkonzerne schimpfen, am Ende siegen das Medley und der Bademantel. Oder besser: fast am Ende. Denn Udo Jürgens kommt zurück auf die Bühne, diesmal in heller Jeans und den neuesten Nike-Sneakern. Menschen liegen einander in den Armen, stehen auf den Stühlen, wieder brandet Jubel auf. Im letzten Song des Abends singt er: „Ich schau im Fernsehen Unsinn an / da klingelt es, und du bist dran“. Einsamer Künstler nach dem großen Auftritt, leeres Hotelzimmer, man kennt das. Geschenkt. Als das Licht in der Halle längst an ist und die ersten Roadies zu arbeiten beginnen, schüttelt Udo Jürgens weiter frisch manikürte Hände. Ein Abend, den man in Cellophan verpacken möchte.
Das Zusatzkonzert am 18.3.2015 in der Berliner O2-World entfällt nach dem Tod von Udo Jürgens.

Esther Kogelboom

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