Udo Jürgens: „Träume sind unser Rückenwind“
Merci, Chérie: Udo Jürgens über Musik und Freiheit, die Euphorie des Jahres 1968 und sein neues Album „Einfach ich“.
Herr Jürgens, haben Sie eine Ahnung, wie viele Liebeslieder Sie gesungen haben?
Nein, das weiß ich nicht. Aber insgesamt habe ich ungefähr tausend Lieder geschrieben und aufgenommen im Laufe der fünfzig Jahre, die ich jetzt im Geschäft bin. Da ist natürlich eine große Menge aller Arten von Liebesliedern dabei: schmalzige, nachdenkliche, chansonhafte, gelungene und nicht gelungene.
Kann man fünfzig Jahre lang von Liebe singen und dabei Klischees vermeiden?
Das geht überhaupt nicht. Ein bisschen Klischee gehört in jedes Liebeslied. Die Kunst ist es, nicht ein Klischee an das andere zu reihen. Aber dieselbe Frage könnten Sie natürlich auch einem Schriftsteller stellen: Wie stellt man es an, jahrelang zu schreiben, ohne sich zu wiederholen? Es gibt kein Buch, in dem die Liebe nicht vorkommt. Es gibt auch kein Bild, keinen Film ohne sie.
Ihr neues Album „Einfach ich“ wirkt ziemlich melancholisch. Ein Lied heißt „Warum denken traurig macht“, ein anderes „Letzte Ausfahrt Liebe“. Am Ende ziehen Sie eine ernüchternde „Fehlbilanz“: „Volle Einkaufswagen, inhaltsleeres Leben“. Woher kommt Ihr Pessimismus?
Das ist kein Pessismismus, eher eine gewisse Nachdenklichkeit, die schon seit vielen Jahren in meinen Liedern ist. Meine Lieder gehen ins Chansonhafte, ich versuche, den Franzosen, Italienern und Spaniern nachzueifern, deren Schlager schon immer eine größere Tiefe hatten. Mir ging es darum, ein möglichst facettenreiches Album zu machen. Es gibt Liebeslieder darauf, aber es ist auch frech und nicht unpolitisch. „Tanz auf dem Vulkan“ versucht, auf satirische Art ein dramatisches Problem, den Klimawandel, zu betrachten. „Völlig vernetzt“ macht sich über die Technisierung unseres Alltags lustig. Und natürlich gibt es melancholische Momente, aber wenn man in mein Alter kommt, ist das auch durchaus berechtigt.
Wie wichtig ist die Qualität des Textes für den Erfolg eines Liedes?
Unterschiedlich. Meist sind vor allem die Idee und die Titelzeile wichtig. „Wer soll das bezahlen?“, ist so eine geniale Zeile. Da singt die ganze Kneipe mit, da kommt es auf den weiteren Text nicht mehr an. Die meisten meiner Lieder funktionieren anders, Chansons sind komplexer. Herbert Grönemeyer macht das ähnlich, er versucht, in seinen Liedern den inneren Zustand von Menschen zu beschreiben. Ich bemühe mich, Text und Musik auf einem relativ hohen Niveau zu halten. Meistens werden meine Lieder von der Musik getragen, aber wenn man genauer hinhört, haben sie manchmal auch ganz lustige Texte. „Aber bitte mit Sahne“ ist ein satirischer Songtext, wie es ihn bis dahin in Deutschland nicht gegeben hat.
Haben Sie immer schon eine Zeile im Kopf, wenn Sie ein Lied schreiben?
Das ist der Idealfall. Wenn ich eine Zeile aufschnappe oder irgendwo lese und denke, daraus könnte ein Lied werden, dann habe ich schon mal eine Gangart, wohin sich das Stück entwickeln könnte. Ist das eine langsame oder schnelle Nummer, eher lustig oder sentimental, was für eine Geschichte könnte man darin verpacken? So eine Zeile ist hilfreich, aber ungefähr die Hälfte meiner Stücke schreibe ich ganz ohne Text. Da bemühe ich mich, dass die Musik stimmt, dass sie nicht zu glatt ist, ein paar Brüche hat, die Tonarten wechseln und der Rhythmus sich verschiebt. Und nachher überlege ich dann, zusammen mit dem Textdichter, welche Worte dazu passen könnten. Das ist mitunter eine sehr nüchterne, anstrengende Beschäftigung.
Bei welchem Ihrer Hits stand eine Zeile am Anfang?
Zum Beispiel bei „Siebzehn Jahr, blondes Haar“. Da bin ich mit ein paar Freunden an einem Sommertag im Cabrio durch München gefahren und habe an einer Kreuzung ein vielleicht siebzehnjähriges Mädchen gesehen, die war blond und sah aus wie ein Traum. Wir lachten und winkten, sie lachte und winkte, wir konnten aber nicht anhalten, es war ein totales Verkehrsgewühl. Wir sind an der nächsten Ampel abgebogen und zurückgefahren, haben sie aber nicht mehr gefunden. Ich habe mich noch am selben Tag hingesetzt und genau diese Geschichte in dem Lied geschildert: „Ein Tag wie jeder, Menschengewühl / Und da stand sie, sie / Siebzehn Jahr, blondes Haar.“ Bei der Musik habe ich mich total am Motown-Sound angelehnt, diesem harten Viervierteltakt. Damals wurden gerade die Supremes in Deutschland bekannt (singt und schnippst): „Stop! In the name of love / Before you break my heart.“ Das war die Musik, die in unserem Kassettenrecorder lief, wenn wir durch die Straßen fuhren. Ein paar Jahre später bin ich dann sogar zusammen mit Diana Ross und den Supremes in Paris aufgetreten. Es gibt sogar ein Video von mir und den Supremes bei Youtube.
In diesem Jahr wird das 40-jährige Jubiläum des Umbruchjahres 1968 gefeiert. Was verbinden Sie mit dieser Zeit?
Wer in den sechziger und siebziger Jahren nicht jung war, der hat eigentlich nichts begriffen. Das war die Zeit, in der alle Kinder mit den Bädern ausgeschüttet wurden, man lebte überschäumend und machte unheimlich viel Blödsinn. Die einen sind zum Demonstrieren auf die Straße gegangen, haben Steine geworfen und Krieg gegen den Staat geführt. Genau so viele, über die aber nichts geschrieben wurde, sind in die Disco gegangen und haben total abgefeiert. Beide Seiten wurden voneinander inspiriert, aber sie waren einander nicht grün. Natürlich gehörte ich zu der Feier-Gruppe, aber ich hatte auch Kontakt zur Polit-Fraktion. Mit Uschi Obermaier bin ich heute noch befreundet. Natürlich ging es damals auch mit den Drogen los und mit dem Alkohol. Der Alkohol wurde dann eine Zeit lang mein Problem. Eine extrem anstrengende, aber lebendige Zeit.
Vermissen sie das Lebensgefühl von einst?
Total. Solche Sachen wie das Rauchverbot, Überwachungskameras, diese ganzen Beschneidungen von Freiheit, das hat sich damals keiner vorstellen können. Es ist ein Verlust von Freiheit, den ich seit dem 11. September auch in Amerika beobachte. Ich habe da viele Freunde, bin oft drüben, aber die Art, wie man schon bei der Einreise am Flughafen behandelt wird, ist menschenunwürdig. Man hat buchstäblich Angst, in irgendeiner Zelle zu landen. Und wir machen leider alles den Amerikanern nach.
Seit den siebziger Jahren singen Sie nicht mehr nur Liebeslieder, sondern auch Stücke wie „Griechischer Wein“ oder „Ein ehrenwertes Haus“, die kritische Gegenwartsbeschreibungen sind. Glauben Sie, dass Lieder die Welt verändern können?
Auch Bob Dylan hat die Welt nicht verändern können, aber manchmal ist die Stimmung, die von einer Musik ausgeht, ein Mosaikstein, der zur Veränderung beiträgt. Der Fall der Berliner Mauer, davon bin ich überzeugt, hatte ganz entscheidend auch mit der Pop- und Rockmusik des Westens zu tun. Popmusik ist ein Ausdruck von Freiheit, und keine Regierung hat diese Musik an einer Grenze aufhalten können. Ich hatte unglaublich viele Fans in der DDR, es gab Leute, die geflüchtet sind, um ein Konzert von mir im Westen zu sehen. Ich habe das Thema der deutschen Teilung auch immer wieder in meinen Liedern aufgegriffen, etwa in „Atlantis sind wir“. Da heißt es: „Der Riss durch Berlin, der lautlose Schrei in die Welt hinaus.“ Als ich das 1987 bei einem Konzert im Ost-Berliner Friedrichstadtpalast gesungen habe, sind Tausende Zuhörer begeistert von ihren Sitzen aufgesprungen, es gab minutenlangen Applaus. Und in der ersten Reihe saß das gesamte Politbüro.
Ihr neues Album haben Sie mit 120 Musikern in London, Berlin und Köln aufgenommen. Die Musikindustrie steckt in einer existenziellen Krise, wie lange wird es so aufwändige Produktionen noch geben?
Keine Ahnung, aber ich schwimme gerne gegen den Strom. Ich habe für die Platte mit unglaublich tollen Musikern zusammenarbeiten können. Sie nennen sich London Musicians’ Orchestra, wenn sie andere Musik machen als Klassik. In Wahrheit ist es das weltberühmte London Philharmonic Orchestra. Ich wollte wieder einmal richtig emotional musizieren. Die Leute aus der Branche haben mich natürlich für verrückt erklärt. Alle anderen produzieren billig, der macht das genaue Gegenteil. Aber ich bin jetzt 73 und lasse mich nicht mehr davon abbringen, meine Träume zu verwirklichen. Ich will Spaß haben mit meiner Musik, wenn der Spaß nicht mehr da ist, mache ich den Klavierdeckel sofort zu. Und ich habe viel Geld verdient mit Musik. Etwas davon gebe ich jetzt zurück.
„Die unerfüllten Träume / Sind dein Rückenwind“, singen Sie in einem Lied. Was sind Ihre unerfüllten Träume?
Da gibt es viele. Träume sind aber nicht dazu da, Ziele aufzustellen, die wir erreichen können. Sie helfen uns, den Hintern hochzukriegen. Als Kind habe ich unglaublichen Phantastereien nachgehangen. Mit 12 habe ich gedacht, ich will wie George Gershwin werden, ich möchte der größte lebende Komponist auf dem Erdball sein. Da lag ich auf dem Bett mit geschlossenen Augen, aber innerlich habe ich geschwebt. Und diese Träume haben wahrscheinlich bewirkt, dass ich mich auf den Weg gemacht habe. Träume sind unser Rückenwind, denn, so geht der Text weiter: „Du welkst in der Zufriedenheit.“ Zufriedenheit ist kein Lebensglück. Lebensglück kann nur bedeuten, sich allem Auf und Ab des Lebenswegs zu stellen, zu stolpern und wieder aufzustehen. Euphorie entsteht nur nach der Niedergeschlagenheit, und aus der Euphorie entsteht dann etwas Großartiges: Ein Maler malt ein irres Bild, ein Schriftsteller beginnt ein Buch, das die Welt bewegt. Deswegen glaube ich nicht an die Zufriedenheit.
Wie lange werden Sie noch auf der Bühne stehen?
Ich habe ein Lebensfeuer in mir, solange das noch brennt, werde ich weiter Musik machen. Es gibt Menschen, die auch im hohen Alter noch unglaublich lebendig sind. Peter Ustinov war ein Freund von mir, von ihm habe ich viel gelernt. Am Ende saß er im Rollstuhl, sein Körper war schon im Eimer. Aber sein Geist war noch so wach, das hat einen angezündet. Ich hoffe, dass ich meine Art zu leben noch eine Weile fortführen kann, auch mit der Unrast, die mich treibt. Ich suche gar nicht die Ausgeruhtheit, das ist nicht mein Lebensziel, überhaupt nicht.
Das Gespräch führte Christian Schröder.
Udo Jürgens, 73, ist einer der erfolgreichsten Entertainer des deutschsprachigen Raums. Der gebürtige Klagenfurter, der heute in der Schweiz lebt, war ursprünglich Jazzpianist.
Nachdem er sich aufs Schlagerfach verlegt hatte, gelang Jürgens 1966 beim Grand Prix mit seinem Siegertitel „Merci, Chérie“ der Durchbruch. Zu seinen größten Erfolgen zählten seitdem „Griechischer Wein“, „Siebzehn Jahr, blondes Haar“, „Mit 66 Jahren“ und „Aber bitte mit Sahne“. Der Sänger und Komponist verkaufte rund 100 Millionen Tonträger.
In Hamburg läuft derzeit das Jürgens-Musical „Ich war noch niemals in New York“. Das Album Einfach ich ist bei SonyBMG erschienen.
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