Belgischer Symbolismus: Als Paris nach Brüssel blickte
Die Alte Nationalgalerie Berlin präsentiert die Ausstellung "Dekadenz und dunkle Träume". Ein Rückblick auf die Geschichte Belgiens im 19. Jahrhundert.
Wer heute Brüssel sagt, denkt an die Hauptstadt Europas, an die unverarbeitete koloniale Vergangenheit oder die Integrationsprobleme im Arbeiterviertel Molenbeek. Doch dass Brüssel einmal Hotspot der europäischen Kunstszene war, kommt einem nicht sofort in den Sinn. Aber Belgien gehörte Ende des 19. Jahrhunderts zu den reichsten Ländern der Welt. Die frühe Industrialisierung, noch vor Preußen und Frankreich, bescherte dem kleinen Staat, der 1830 seine Unabhängigkeit erlangt hatte, einen ungeheuren Aufschwung. Das lag am Bergbau und der Metallindustrie in der französischsprachigen Wallonie im Süden. Im ländlichen, niederländischsprachigen Flandern dominierte die Textilindustrie. Die Unabhängigkeit verhalf Belgien zu einem „Gründerboom“, in dessen Zuge auch die Hauptstadt Brüssel aufgewertet wurde. Sie liegt nördlich der Sprachgrenze in Flandern und war bis 1830 überwiegend niederländischsprachig.
Mit der Hauptstadtfunktion veränderte sich der Charakter Brüssels rasch. Das Französische gewann in Administration und Diplomatie an Gewicht, der Grundstein dafür war bereits während der kurzen französischen Besatzung 1790 bis 1815 gelegt worden. Französisch galt als Sprache der Aufklärung. Das liberale Bürgertum, auch das flämische, parlierte Französisch. Die wirtschaftlich florierende Wallonie zog auch Arbeiter aus Nordfrankreich an, so dass Französisch auch in der Arbeiterschaft gesprochen wurde, zumal auch die Sozialisten dachten, dass sie damit den Einfluss der Katholiken eindämmen könnten.
Der immense Reichtum manifestierte sich in großer Bautätigkeit
Dank der Freihandelsverträge mit Frankreich, England und dem Deutschen Zollverein von 1860 an florierte die belgische Wirtschaft, das Eisenbahnnetz wurde vergrößert. Belgische Unternehmer bauten Eisenbahnen in Russland, Ägypten oder China, etwa die 1200 Kilometer lange Linie von Peking nach Hankow. Hinzu kam der Kongo-Freistaat, den König Leopold II. 1888 als Privateigentum erworben hatte und schamlos ausbeutete – was der belgische Staat, in dessen Besitz die Kolonie 1908 geriet, nahtlos weiterführte.
Der so in kurzer Zeit angehäufte immense Reichtum manifestierte sich in großer Bautätigkeit in Brüssel. Ganze Viertel wurden abgerissen und erstanden neu – mehr als 500 prächtige Jugendstil-Bauten in nur 20 Jahren. Brüssel wurde zum Sitz großer Banken, hier wohnten Industrielle und damit einflussreiche und vermögende Kunstsammler. Kurzum, die Stadt entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer weltläufigen Metropole, in der die französische Sprache immer mehr an Einfluss gewann.
Dabei war Brüssel keine französische Dépendance. Man schaute zwar nach Paris, war sich aber auch seiner eigenen Stärke bewusst. Gleichzeitig herrschten starke soziale Gegensätze: hier die proletarischen Kohlereviere der Wallonie, dort die ärmlichen bäuerlichen Gegenden Flanderns. Im Zentrum befanden sich die mondänen Metropolen Brüssel und Antwerpen mit liberalem, weltoffenen Bürgertum. Starke soziale Unruhen um 1886 erschütterten das Land und ließen Zweifel am Fortschrittsglauben aufkommen. Auf diesem sozialen Nährboden entsandten in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts in Brüssel Künstlergruppen, die den gesamten Kontinent beeinflussten. Sie setzten das Gefühl der Zeitenwende künstlerisch um. Die rasche Industrialisierung hatte zwar den Wohlstand weniger vermehrt, gleichzeitig aber soziale Gegensätze verschärft.
Die Entdeckung des flämischen Mittelalters
Bildende Künstler und Schriftsteller suchten nach neuen Ausdrucksformen, Gruppen wie die Symbolisten von „Les XX“ boten mit ihrem Salon für zeitgenössische belgische und internationale Kunst ein interessantes Forum, das auch im Ausland beachtet wurde. Man ging nicht mehr automatisch nach Paris – die Metropole an der Seine blickte nach Brüssel. Gleichzeitig besannen sich auch französischsprachige Künstlern auf die eigene Identität als Belgier. Die belgischen Symbolisten entdeckten die „Kultur des Nordens“, des flämischen Mittelalters, um der kulturellen Dominanz Frankreichs etwas entgegenzusetzen. Die zwanzig belgischen Künstler von „Les XX“, darunter Félicien Rops, Fernand Khnopff und James Ensor, luden europäische Kollegen ein: August Rodin, den Niederländer Jan Toorop, aber auch Camille Pissaro, Paul Cézanne, Georges Seurat und Paul Gauguin. Auch Claude Monet und Auguste Renoir kamen gern nach Brüssel. So wurde die belgische Hauptstadt gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Sammelpunkt der europäischen Kunstentwicklung, ein bedeutender Markt, der weit nach Europa ausstrahlte.
Flämisch sprach man nur mit den Tieren
Diese Entwicklung förderte die Dominanz der französischen Sprache in Brüssel. „In Brüssel, wie auch in Flandern, war Sprache der hörbare Teil des Klassenkampfes“, hat der flämische Brüsseler Schriftsteller Geert van Istendael einmal geschrieben. Er zitiert Rosa Luxemburg: „On parlait le flamand aux animaux et aux domestiques“ – „man sprach Flämisch mit den Tieren und den Domestiken“. Heute spiegelt Brüssel dank der Föderalisierung des belgischen Staates nach langen internen Auseinandersetzungen diese komplizierte Entwicklung. Die Stadt ist neben der Region Flandern und der Region Wallonie eine eigene Region, die aus 19 Gemeinden besteht. Brüssel ist außerdem Hauptstadt sowohl der französischsprachigen als auch der niederländischsprachigen Gemeinschaft. Jede Gemeinschaft und jede Region verfügt über eine eigene Regierung, die Entscheidungen fällen kann, die von der Bundesregierung, deren Hauptstadt ebenfalls Brüssel ist, nicht aufgehoben werden kann.
Durch den Sitz der europäischen Institutionen und die Zuwanderung in Arbeitervierteln wie Molenbeek und Anderlecht ist Brüssel heute internationaler denn je. Der Sprachenstreit verblasst angesichts all jener Idiome, die durch die Migration aus Afrika nach Brüssel gekommen sind. Heute stammen viele französischsprachige Brüsseler aus Italien, Spanien und der arabischen Welt. Brüssel ist ein Babylon geworden, ein Mosaik aus Minderheiten jenseits der alten Antagonismen zwischen Flamen und Wallonen, das zur kulturellen Bereicherung der Gesellschaft beitragen kann.