Polit-Comic „Die Präsidentin“: Als Marine Le Pen die Wahl gewann
Politisches Erdbeben mit weitreichenden Folgen: In dem Comic „Die Präsidentin“ wird eine Rechtspopulistin zum französischen Staatsoberhaupt.
„Sie werden nicht sagen können, dass Sie es nicht gewusst haben,“ so heißt es warnend per Aufkleber auf dem Cover der französischen Originalausgabe dieses Buches. Für Deutschland erscheint es angesichts der bisherigen Wahlergebnisse der AfD, (noch) unvorstellbar, in Frankreich wird es in der Fantasie von Autor François Durpaire und Zeichner Farid Boudjellal im September 2017 Wirklichkeit: Eine Rechtspopulistin wird Präsidentin.
Marine Le Pen wird im Band „Die Präsidentin“ den zweiten Wahlgang knapp gegen den amtierenden Präsidenten François Hollande gewinnen, weil viele sozialistische Wähler zu Hause bleiben und die Konservativen das republikanische Bündnis gegen Le Pen nicht geschlossen unterstützen.
Auf der Basis des Wahlprogramms des Front National (FN) entwerfen die Comic-Künstler ein Szenario der ersten Monate einer Le Pen-Präsidentschaft. Aufgrund der Komplexität der Materie ist der in schwarz-weiß gehaltene Band, der viele am Computer bearbeitete Fotohintergründe enthält, teilweise sehr textlastig.
Eine neue Résistance entsteht
Für den mit der französischen Politik nicht vertrauten deutschen Leser gibt es diverse Verständnishürden – insbesondere bezüglich der Hintergründe verschiedener Personen und Ereignisse, die vorausgesetzt werden – aber durch die Rahmenhandlung entsteht auch dann ein ausreichend tragfähiger narrativer Fluss, wenn man nicht jede Unklarheit recherchiert. Für den Interessierten enthält der Band gleichwohl en passant reichhaltige Informationen zur Geschichte des FN und zur französischen Geschichte und Politik- und Medienlandschaft.
Angesichts der Unbeliebtheit der amtierenden Regierung ist das hier entworfene Szenario so unwahrscheinlich nicht. Auch Michel Wieviorka, Soziologe in Paris, sagt in seinem Roman „Séisme“ (Erdbeben) den Sieg Le Pens voraus. Ein Sieg eines Konservativen (möglicherweise des ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy) ist allerdings wahrscheinlicher – wie schon 2002, als Jacques Chirac im zweiten Wahlgang Jean-Marie Le Pen deutlich besiegte.
Wie gesagt, die Rahmenhandlung in „Die Präsidentin“ trägt. Die Autoren haben es allerdings für notwendig erachtet, die Diskussion einer möglichen FN-Herrschaft mit dem antifaschistischen Kampf gegen die deutsche Besatzung und die Kollaborateure des Vichy-Regimes zu verknüpfen.
Vehikel dafür ist die über 90 Jahre alte ehemalige Résistance-Kämpferin Antoinette Giraud. Antoinettes Enkel übernehmen mit ihrem Kampf gegen den FN symbolisch die Fackel der Freiheit. Spannender wäre es m.E. gewesen, die hier erzählte Geschichte eben nicht mit Vichy und Nazi-Diktatur zu verklammern, weil es ja eben ein Problem der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus ist, dass es kaum mehr direkte Verbindungen dazu gibt.
Die Plausibilität der Rahmenhandlung wird in „La Présidente“ sogar noch weiter strapaziert, indem einer der beiden Enkel aus einer Beziehung mit einem Algerier stammt (womit ein Bezug zum unrühmlichen Algerienkrieg hergestellt wird) und die Freundin des anderen Enkels eine „sans papiers“ aus dem Senegal ist, die durch die Wahl Le Pens ihre Naturalisierung knapp verpasst und dann abgeschoben wird. Damit wäre dann auch die sub-saharische Kolonialgeschichte Frankreichs – und die damit verbundene Verantwortung für die ehemaligen Kolonien – abgedeckt.
Dies ist eindeutig etwas zu viel des Guten; es wirkt gewollt.
Der Front National ist besser organisiert als seine Gegner
Die vier Protagonisten der Rahmenhandlung repräsentieren im Comic das republikanische, moderne, bunte, offene Frankreich – das „andere“ Frankreich wird dagegen nur von seinen politischen Führern vertreten. Insbesondere die Wähler Le Pens kommen nicht vor, dabei wäre es wichtig, die Gründe für die große Unterstützung rechtspopulistischer Akteure in Europa und Nordamerika zu diskutieren. Hier lohnt ein Blick in die auch auf Deutsch vorliegende und zu Recht hochgelobte Reihe „Der alltägliche Kampf“ von Manu Larcenet, in der Werftarbeiter nicht aus inhaltlicher Überzeugung zu FN-Wählern werden, sondern wegen diffuser Ängste vor Globalisierung und Immigration und aus Protest gegen untätige politische Eliten, die den Backlash gegen die unregulierte Liberalisierung nur mit Herablassung betrachten.
Auch in „Die Präsidentin“ scheint aus dem politischen Establishment, aus dem Kreis der Le Pen unterlegenen politischen Eliten, niemand in der Lage, den Schock der Niederlage zu überwinden und Widerstand zu organisieren. Die Enkel von Antoinette werden dagegen zum Teil einer neuer Résistance – mit einem Blog im Internet.
Hier wird m.E. eher unbeabsichtigt eine Tragödie der gegenwärtigen Post-Politik offenbar: Eine unpolitisch und hedonistisch vor sich hinlebende Jugend wählt auch in der Krise der Demokratie individualistische Strategien, denn Massenorganisationen bleiben ihr suspekt.
Und so wie der repressive Staat weltweit die Oberhand gegenüber den Nichtregierungsorganisationen der Zivilgesellschaft behält, wenn er es will (Stichwort „shrinking spaces for citizens“), jedenfalls kurz- und mittelfristig, so ist die straffe Organisation des Front National jeder situativen, spontanen, individuellen Protestpolitik zunächst jederzeit überlegen.
Als Warnung wichtig und überaus lesenswert
Ist die autoritäre Herrschaft dann erst einmal ausgestattet mit den Ressourcen des Staatsapparats (Militär, Polizei, Justiz, Geheimdienst), gerade wenn sie über die Legitimität einer demokratischen Mehrheit verfügt, so ist möglicherweise auch die Hoffnung auf die nächsten Wahlen vergeblich, auch weil diese manipuliert und gefälscht werden können.
Demokratie kann eine dauerhafte Wertebasis einer Gesellschaft nicht aus sich selbst heraus schaffen, und insbesondere Mechanismen der direkten Demokratie begünstigen launenhaften Populismus (siehe den Volksentscheid zum Brexit, der in „La Présidente“ übrigens korrekt vorausgesagt wird). Um eine einmal gefundene Wertebasis und insbesondere die Rechte des Individuums und die Interessen von Minderheiten vor der „Tyrannei der Mehrheit“ (so die Väter der US-Verfassung) zu schützen, bedarf es institutioneller Absicherungen und rechtsstaatlicher Schutzmechanismen, die nicht leicht abgeändert werden können.
Insofern ist der Wahlsieg Marine Le Pens in „Die Präsidentin“ am Ende tatsächlich ein politisches Erdbeben: Die Demokratie kann sich selbst abwählen (und den Rechtsstaat gleich mit)! Was jenseits der wenig überraschenden innenpolitischen Maßnahmen (Überwachung, Ausweisungen, ein Referendum zur Abschaffung des Verfassungsrats – man beachte die Parallelen zur Politik in Polen und Ungarn) und den ersten ökonomischen und außenpolitischen Krisen nach der Wahl Le Pens hier noch passiert, soll nicht verraten werden.
Politische Literatur ist schwierig; oft wird der narrative und ästhetische Unterhaltungswert vom moralischen Anspruch arg gemindert. Auch hier holpert die Geschichte so manches Mal, die Protagonisten wirken bisweilen hölzern und ihre Mimik gibt Rätsel auf, weil sie nicht recht mit ihren Aussagen im Einklang steht. Dennoch ist der Band nicht nur als Warnung wichtig, sondern auch überaus lesenswert, weil perspektivenreich erzählt und nicht belehrend.
Francois Durpaire und Farid Boudjellal: Die Präsidentin, Jacoby & Stuart, 160 Seiten, 19,95 Euro
Unser Autor Dr. Thomas Greven ist Senior Research Fellow am Institut für Internationale Politik, Berlin, und Privatdozent am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin.
Thomas Greven