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Hetze gegen Juden. In Paris und Sarcelles kam es zu gewaltsamen Protesten. Fotos: AFP (2), Reuters (2)
© REUTERS

Nahost und Antisemitismus: Frankreichs junge Araber: Der Hass aus den Vorstädten

In Westeuropa mehren sich vor dem Hintergrund des Nahostkonfliktes antisemitische Ausschreitungen. In Frankreich dienen sie jungen Muslimen auch als Ventil für ihren Frust auf die Gesellschaft.

Auf dem weitläufigen Place de France im Zentrum der Kleinstadt Sarcelles toben Kinder herum. Auffällig viele Polizisten patrouillieren. An Cafétischen sitzen schwatzende Rentner und ein paar Meter entfernt steht ein Security-Beamter mit Schäferhund hinter einem rot-weißen Absperrband. Er bewacht ein zerstörtes, provisorisch vernageltes Ladenlokal: „Wegen Bauarbeiten geschlossen – Wiedereröffnung am 1. September“ verkündet ein Schild. Auch eine Woche nach den Krawallen bei einer verbotenen pro-palästinensischen Demonstration schwankt die Stimmung in der 60 000-Einwohner-Gemeinde nördlich von Paris zwischen Normalität und Ausnahmezustand.

Unechter Antisemitismus?

"Seit den Vorfällen am Sonntag ist es merkwürdig ruhig geworden. Ich habe viel weniger Kundschaft“, erzählt Claire. An ihrem Kiosk verkauft die 62-Jährige Getränke und Snacks, auf Wunsch koscher oder halal. In Sarcelles leben seit Jahrzehnten unterschiedliche religiöse und ethnische Gruppen, vor allem Muslime und sephardische Juden, überwiegend friedlich zusammen. Zwischen Synagoge und islamischem Kulturzentrum liegen nur ein paar hundert Meter. In der Südstadt ragen imposante, teils heruntergekommenen Wohnblocks in den Himmel, erbaut ab Mitte der 50er Jahre. Die erste Großraumsiedlung Frankreichs.

Bei bürgerkriegsartigen Tumulten wurden, hier wie im Pariser Stadtviertel Barbès, Autos und Mülltonnen angezündet. Schaufenster gingen zu Bruch und eine Apotheke brannte völlig aus. „Tod den Juden“ riefen junge, vermummte Männer. Mit Schlagstöcken bewaffnet hatten sich auch rund 30 Mitglieder der radikalen jüdischen Organisation „Ligue de la défense juive“ vor der Synagoge in Stellung gebracht. Die Polizei hatte Mühe, die Situation zu entschärfen, es gab 18 Festnahmen. „Diese Randalierer waren nicht von hier“, erklärt Seb (Name geändert). Der muskulöse Mittdreißiger ist Sozialarbeiter. Er kennt die Stadt und ihre Bewohner wie kaum ein anderer. „Diese Jungs wollten sich Luft machen, die brauchten ein Ventil.“

„Tod den Juden“

Auch der Soziologe Michel Wieviorka gab in der Wochenzeitung Nouvel Observateur zu bedenken, dass viele arabischstämmige Jugendliche aus Frankreichs Vorstädten sich verraten und vergessen fühlten – ebenso wie die Menschen in Gaza. Daher seien sie so bemüht um die „palästinensische Sache“.

Der Präsident des Dachverbandes jüdischer Vereinigungen in Frankreich (Crif), Roger Cukierman spricht hingegen von einer regelrechten „Kristallnacht“: „Wir sind knapp einem Pogrom entgangen.“ Die Demonstranten riefen nicht „Tod den Israelis“, sondern „Tod den Juden“. Der Konflikt im Nahen Osten sei nur ein Vorwand für die antisemitischen Übergriffe. In den vergangenen Jahren und besonders im Zuge der zweiten Intifada 2009 haben antisemitische Akte in der Tat zugenommen. 2013 wurden 423 verbale und körperliche Angriffe angezeigt. In diesem Jahr sind die Zahlen bereits jetzt um 40 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Frankreichs Premierminister Manuel Valls sieht in den jüngsten Ereignissen einen „neuen Antisemitismus“: „Was in Sarcelles passiert ist, kann nicht toleriert werden. Eine Synagoge oder einen koscheren Lebensmittelladen zu attackieren, ist ganz einfach Antisemitismus, Rassismus.“

„Die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus ist nicht leicht auszumachen“ , gibt Michel Wieviorka zu bedenken. „Wenn man dem Staat Israel, also dem jüdischen Staat, das Existenzrecht abspricht, spricht man den Juden das Recht auf einen Staat ab. Die Abscheu vor Israel ist dann eine Abscheu vor Juden im Allgemeinen. (...) Es ist aber kein Problem, Israels brutale Siedlungspolitik zu kritisieren.“

Angst vor Abschottung

In den Straßen seiner Heimatstadt Sarcelles, die auch als Klein-Jerusalem bezeichnet wird, trägt der 26-jährige Cohen seine Kippa weiter. Als orthodoxer Jude sei er äußerst beunruhigt über die Vorfälle. Die einseitige Berichterstattung der Medien über das Leiden der Menschen in Gaza sei allerdings daran mit schuld. „Israel muss sich verteidigen. Es ist die Hamas, gegen die demonstriert werden sollte, nicht gegen Israel.“ Viele seiner Freunde denken mittlerweile daran, nach Israel auszuwandern. Halbstaatliche, zionistische Organisationen wie die Agence Juive werben eifrig um neue Staatsbürger. „Ich hoffe aber, dass sich die Lage beruhigt und wir bleiben können“, fügt Cohen hinzu.

„Wir haben die Eskalation kommen sehen“, gesteht der sozialistische Bürgermeister François Pupponi. „Islamistische Extremisten nutzen die negative Stimmung für ihre Propaganda aus. Sie hetzen gegen jüdische Mitbürger.“ Hinter vorgehaltener Hand wiederum erzählen muslimische Sarcellois, dass Bürgermeister Pupponi die jüdische Bevölkerung bevorteilt: mit größeren Sozialwohnungen, besseren Schulen und mehr Geld für Infrastrukturprojekte. So trage auch er Schuld an herrschenden Ressentiments. „Gewählt ist die sozialistische Stadtverwaltung eben von den Juden, die zahlreicher an die Urnen gehen“, sagt auch Seb. „Und Wählerstimmen muss man sich etwas kosten lassen.“

Alltäglicher Rassismus

Konflikte zwischen religiösen und ethnischen Gruppen werden in Frankreich derzeit immer offener ausgetragen. Schon lange geistert die Angst vor „communautarisme“ durch die Öffentlichkeit. Gemeint ist die explizite Abgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen und solche Abschottungstendenzen widersprechen gänzlich dem Wesen der „République indivisible“, der unteilbaren Republik, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben ist.

Nur ist der Traum von einer egalitären, brüderlichen und freien Nation schon lange ausgeträumt: Alltäglicher Rassismus gegen Muslime, gegen Roma, Juden und Farbige und die Wahlerfolge des rechtsextremen Front National zeigen, wie groß das gegenseitige Misstrauen bereits ist. „Vielleicht ist es besser, jeder bleibt mal eine Weile für sich“, antwortet Seb auf die Frage, wie in Sarcelles wieder Normalität einkehren könnte. Dann wartet Kioskbetreiberin Claire wohl weiter vergeblich auf Kundschaft für ihre Sandwichs. Auf Wunsch auch koscher oder halal …

Romy Strassenburg

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