Preis der Nationalgalerie 2017: Als die Moderne karibisch wurde
Ein starkes Quartett: Die Finalistinnen des Preises der Nationalgalerie für junge Kunst zeigen ihre Arbeiten im Hamburger Bahnhof.
Ist das echt? Die alten PCs stehen auf wackeligen Tischen, die Stühle davor sind bunt bezogen. Zusammen mit den schwarzen Trennscheiben ergibt sich ein stimmiges Bild: Es sieht aus wie in einem typischen Internetcafé. Schon wollen sich die ersten Besucher niederlassen, doch das geht nicht. Sol Calero hat ihr „Amazonas Shopping Center“ nun einmal in den Hamburger Bahnhof gebaut, und sofort verändern sich die Vorzeichen. Aus dem Konglomerat von Tischen, Hockern, Grünpflanzen und Tresen wird ein auratisches Kunstwerk.
Im besten Fall verhilft es der Künstlerin, die aus Caracas stammt, zum diesjährigen Preis der Nationalgalerie für junge Kunst. Der erste Platz beim Museumspublikum, das seit einigen Jahren ebenfalls seinen Favoriten wählen kann – ohne dass es sich auf die Entscheidung der Jury auswirkt –, scheint Calero schon sicher. Ihre Installation, die durch mehrere Ausstellungsräume mäandert und noch einen Nagelsalon, ein Reisebüro und ein improvisiertes Kino zu bieten hat, ist ebenso fröhlich wie haptisch.
2015 hat Anne Imhof den Preis gewonnen
Kunst, die Spaß macht, obwohl sich dahinter einiges verbirgt. „Ihr spielerischer Ansatz ist von kunsthistorischem und kulturellem Wissen und einem breiten Spektrum an Verweisen durchdrungen – von Henri Matisse über die lateinamerikanische Avantgarde bis hin zur karibischen tropischen Moderne“, schreibt die Jury. Sie hat aus den knapp 90 Vorschlägen internationaler Kuratoren jene Shortlist mit vier Künstlerinnen erstellt, die nun im Hamburger Bahnhof zu Konkurrentinnen werden. Calero, Jahrgang 1982, wird flankiert von Agnieszka Polska, Iman Assa und Jumana Manna. Obgleich alle aus dem Quartett in Berlin leben, ist die Liste so international wie nie zuvor. Dass diesmal ausnahmslos Frauen nominiert wurden, nennt Udo Kittelmann als Direktor des Hamburger Bahnhofs puren Zufall.
2015 hat mit Anne Imhof auch eine Künstlerin das Rennen gemacht, danach die aufsehenerregende Performance „Angst II“ im selben Haus gezeigt und jüngst den Goldenen Bären für ihre Inszenierung im deutschen Pavillon der Biennale von Venedig bekommen. Ein raketenhafter Aufstieg, der nicht zuletzt darauf verweist, wie gut die Prognosen des Berliner Preisgerichts sind. Tino Sehgal, Daniel Richter, Maria Eichhorn, Danh Vo, Olafur Eliasson: Sie alle sind heute international gefragt. Und auch wenn keiner von ihnen den im Jahr 2000 erstmals verliehenen Preis je bekommen hat, war jeder von ihnen unter den Nominierten auf der Shortlist und hat seine Arbeiten im Hamburger Bahnhof gezeigt.
Bloße Beschreibung des Ist-Zustands?
Die Auszeichnung, so viel wird damit klar, ist ein Stimmungsbild der jeweiligen Jury. Keine Kanonisierung, die unumstößlich für alle Zeit gilt. Stattdessen hebt sie innerhalb der Shortlist noch einmal hervor, was nach Ansicht von Kuratoren und Museumsdirektoren gerade wichtig ist und sich gegen sofortige Vermarktung sperrt, was vor allem aber in der aktuellen Ausstellung gelungen ist. Auf „Amazonas Shopping Center“ trifft das unbedingt zu. Calero verdichtet den Zeitgeist zu einem Environment, in dem man sich trifft, Filme von mit Calero vernetzten Künstlern und Künstlerkollektiven anschauen und über kulturelle Codes debattieren kann: Ist das exotische, farbenprächtige Interieur nicht ein einziges Klischee? Karibische Fröhlichkeit, der jeder aufsitzt, der solche Assoziationen angesichts der wuchernden Installation hegt. Doch genau ihre Gegenwärtigkeit, die Nähe zur Realität lässt einen im selben Moment zweifeln. Was bleibt, wenn sich der Staub einiger Jahre auf das Werk legt? Gelingt ihm über die Beschreibung des Ist-Zustands hinaus auch eine Analyse?
Iman Issa liefert schon jetzt mehr davon. Obgleich ihre reduzierten Skulpturen gegen Caleros raumfüllendes Praliné wie Schwarzbrot wirken, bieten sie sinnliche Eindrücke auf konzeptuellem Grund. „HS“ heißen ihre Werke, Heritage Studies. Formal erinnern sie an simple geometrische Figuren aus Kreisen und Rechtecken, manche lassen an gigantische Stifte denken, von denen einer an beiden Enden angespitzt wurde. Erst mit den Titeln stiftet die Künstlerin, die 1997 in Kairo geboren wurde, einen Sinn, der tief in die kulturelle Vergangenheit reicht. Issa spinnt Fäden bis zur Antike, holt Heiligtümer wie Denkmäler diverser Kulturen aus der Versenkung und befragt sie in jener Gestalt, die ihnen die Künstlerin neu verleiht, nach ihrer heutigen Bedeutung.
Mond und Sonne unterhalten sich
Geschichte spielt auch eine Rolle für Jumana Manna, Jahrgang 1987. Als Palästinenserin greift sie Forschungen des Musikethnologen Robert Lachmann auf, der in den 30er Jahren eine Sendung im Palästinensischen Rundfunk hatte und als Mitbegründer der Berliner Schule für Vergleichende Musikwissenschaften gilt. Manna widmet ihren Film „A Magical Substance Flows Into Me“ jenen städtischen und ländlichen Gemeinden, die Lachmann seinerzeit kulturell vermaß, und lässt sie die alten Melodien noch einmal spielen. Das Ergebnis ist eine akustische Kakofonie – chaotisch und dennoch angenehm desillusionierend, was Lachmanns Versuch einer Klassifizierungen anbelangt.
Agnieszka Polska, Jahrgang 1985, schließt den Reigen mit einem Animationsfilm, in dem sich Mond und Sonne über die Erde unterhalten. Die ist am Ende, da herrscht Einigkeit zwischen den beiden. Bloß verzweifelt die Sonne daran, dass sie nicht eingreifen kann, sondern im Gegenteil als Zeugin das Geschehen erst recht real macht. Ein Paradox, unlösbar. Die Jury dagegen wird sich bis Ende Oktober entscheiden müssen, wer aus dem starken Quartett diesmal das Rennen macht.
Preis der Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof, bis 14.1.2018, Di, Mi, Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr
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