Bilanz des Filmfestes Venedig: Alles, was Recht ist
So viel Genrekino gab es noch nie, vor allem Justizdramen und Western: Eine Bilanz des 74. Filmfestivals von Venedig.
Wir leben in kriegerischen Zeiten. Kaum ein Dialogsatz fiel auf dem 74. Filmfest Venedig so oft wie die Kondolenzformel „Mein herzliches Beileid“. Die Kinder sterben vor den Eltern, die vergewaltigte Tochter von Frances McDormand in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“, das Baby von Jennifer Lawrence in Darren Aronofskys Horrorfilm „Mother!“, der fatalistische Umweltaktivist in Paul Schraders Priesterdrama „First Reformed“ und einige mehr. Der Schmerz der Eltern in Samuel Maoz’ israelischem Wettbewerbsfilm „Foxtrot“ wird unerträglich, als sich erst herausstellt, dass der tote Soldat doch nicht ihr Sohn ist, und sich die Folgen der Verwechslung dann als tödlich erweisen.
Beileid ohne Ende
In Rick Ostermanns „Krieg“, einer ARD-Produktion, die als einziger deutscher Venedig-Beitrag dieses Jahr in der Reihe „Orrizonti“ lief, wird die Beileidsbekundung von einer Massenet-Arie übertönt. Den pazifistischen Eltern (Ulrich Matthes, Barbara Auer) wird die Nachricht überbracht, dass ihr Sohn im Mittleren Osten gefallen ist: eine Stummfilmszene mit Musik.
Während der Israeli Maoz nach seinem Kriegswahnfilm „Lebanon“, dem Löwen-Sieger von 2009, die Sinnlosigkeit des Kriegs in seinem Land erneut ins Surreale steigert und junge Soldaten auf verlorenem Wüstenposten eine Schranke bewachen lässt die hauptsächlich von einem Kamel frequentiert wird, setzt Ostermann auf Reduktion. Und auf permanente Szenenwechsel zwischen dem erstarrten Familienalltag vor der Tragödie und einer verschneiten Alpenlandschaft mit Ulrich Matthes als schockstarrem Vater danach. Kalte, weiße Welt: Bald führt der Traumatisierte in der Berghütte selbst einen Krieg, gegen sich und einen mysteriösen Fremden im Wald. Ein Film, der derart auf Allgemeingültigkeit erpicht ist, dass es vor konkreten Ungereimtheiten nur so wimmelt.
Suche nach Gerechtigkeit
Wie geht's der Filmkunst? Wo entstehen andere Bildsprachen, andere Erzählweisen? Der Jahrgang zeichnete sich neben der hohen Präsenz starker US-Produktionen durch die Vielfalt der tradierten Formen aus. Selten so viel Genrekino auf der Mostra gesehen. Festivalchef Alberto Barbera riskierte beim Löwen-Wettbewerb mit 21 Filmen eine konsequent unreine Mischung aus Autorenfilmen, Komödien, Gesellschaftssatiren, einem Horrorstreifen, einem Musical, Gerichtsdramen und Western-Variationen. Kein schlechtes Zeichen, wenn Kunst und Unterhaltung Hand in Hand gehen. Das prägte das Festival am Ende mehr als der neue Virtual-Reality-Wettbewerb und die fast schon selbstverständliche Präsentation von Streamingdienstproduktionen.
Gerichtsdramen und Western: Was tun, wenn Unrecht geschieht, wie lässt sich Gerechtigkeit herstellen? Zahlreiche Leinwand-Fehden riefen Ermittler und Anwälte auf den Plan und versetzten das Publikum in die Position der Geschworenen. Das Kino als Wahrheitskommission, als multiperspektivischer Ort, an dem Argumente und Sichtweisen miteinander konfrontiert werden. Im libanesischen Nachbarschaftsdrama „The Insult“ weitet sich eine läppische Fehde um ein Wasserrohr zum Bürgerkrieg aus; die Streitparteien, ein libanesischer Christ und ein palästinensischer Moslem, erörtern den Nahostkonflikt im furiosen Schlagabtausch vor Gericht. Im japanischen Krimi „The Third Murder“, einem Whodunnit à la „Rashomon“, muss der Zuschauer selbst herausfinden, welche der widersprüchlichen Aussagen des mutmaßlichen Täters zutrifft.
Kampf um das Sorgerecht
Der Debütfilm des Franzosen Xavier Legrand, „Jusqu’à la garde“, der den Wettbewerb am Freitag beschloss, setzt mit einer Anhörung ein. Mutter und Vater kämpfen um das Sorgerecht für den 11-jährigen Julien, sie lebt von Sozialhilfe, er bestreitet, dass er gewalttätig ist. Auf eine kurze Anhörung folgt der Bescheid der Behörde und ein Familienkriegsfilm über den Horror häuslicher Gewalt und die erstickende Atmosphäre der Angst. Legrands Film ergreift Partei, schlägt sich auf Juliens Seite und verdichtet Wirklichkeitspartikel wie das Piepsen des Anschnallgurts im Wagen des Vaters zu Metaphern für die permanente Bedrohung, der ein Kind ausgesetzt sein kann.
Der Western befasst sich seit jeher neben der Landnahme ebenfalls mit Fragen des Rechts anstelle von Rache. Seine Helden sind Einzelgänger, die die Hoffnung nicht aufgeben. Auch „Lean on Pete“ spielt mit Western-Motiven, auch Regisseur Andrew Haigh („45 Years“) stellt ein im Stich gelassenes Kind ins Zentrum. Als auch noch der Alkoholiker-Vater stirbt, wird ein Pferd zum einzigen Gefährten des 14-jährigen Charley. Er will es vor dem Abdecker bewahren, irrt offroad durch Amerika. Charlie Plummer spielt diesen Jungen mit stiller Intensität, manchmal ist es nur ein Gesicht, eine Gestalt, die einen ganzen Film trägt. Ein Pferd retten, um sich selbst zu retten und die Menschlichkeit dazu: Aus Anlass der Ehrenlöwen für Jane Fonda und Robert Redford wurde am Lido auch Sidney Pollacks Klassiker „The Electric Horseman“ gezeigt – wie die Bilder sich gleichen.
Kein Freispruch für Aborigines
Noch ein Western im Wettbewerb: In „Sweet Country“ stellt sich ein australischer Aborigine dem Sheriff, nachdem er einen weißen Siedler in Notwehr erschossen hat. Ein Tisch im Staub vor dem Saloon, ein paar Stühle, ein Richter mit Holzhammer: Gerichtsbarkeit als Pioniertat. Ein Zeuge, was ist das?, will einer der Aborigines wissen. Warwick Thorntons Film betreibt australische Vergangenheitsaufarbeitung: Vor 100 Jahren konnte im Outback auch ein Freispruch nichts gegen die Vorherrschaft der Weißen ausrichten.
Wer die Gegenwart begreifen will, muss in die Vergangenheit blicken. In den Nebenreihen und außer Konkurrenz liefen etliche Dokumentarfilme, die Expeditionen in die Vergangenheit unternehmen, Tiefenschürfungen, Langzeitbeobachtungen. Der Blick zurück als Blick in den Spiegel: Der US-Dokumentarist Errol Morris, der sich mit dem oscar-prämierten „The Fog of War“ und dem Abu-Ghraib-Film „Standard Operating Procedure“ einen Namen machte, präsentierte seine Netflix-Mini-Serie „Wormwood“ über den mysteriösen Tod des Wissenschaftlers Frank Olson, der 1953 aus einen New Yorker Hotelfenster fiel. Unfall, Selbstmord, Mord? Erst 1976 wurde öffentlich, dass der CIA mit Hilfe von Olson Biowaffen entwickelte und ihn ohne sein Wissen an LSD-Menschenexperimenten beteiligte. Die ganze Wahrheit ist bis heute nicht bekannt.
Geschichte der Fake News
Eine Regierung, die vertuscht, Beweise manipuliert und Fake News in Umlauf bringt. Um der Empörung über den hochaktuellen historischen Skandal Ausdruck zu verleihen, fährt Morris das gesamte Arsenal der digitalen Filmtechnik auf, montiert Interviews, Homemovies und Archivmaterial mit Spielfilmszenen und rasanten Splitscreen-Collagen. Er will aufklären, aber es vergeht einem Hören und Sehen dabei. Lässt sich der Streaming-User besser mit einem bombastischen Soundtrack erreichen?
Die Dokumentaristin Nancy Buirski geht in „The Rape of Recy Taylor“ über die Massenvergewaltigung einer jungen Schwarzen 1944 in Abbeville, Louisiana, ruhiger vor, dafür um so nachhaltiger. Recy Taylor gehörte zu den wenigen Opfern weißer Gewalt, die an die Öffentlichkeit gingen. Obwohl die Täter davonkamen, geriet ihr Fall nicht in Vergessenheit, auch dank der Unterstützung von Rosa Parks, der Bürgerrechtlerin des Bus-Boykotts 1955. Die Spätfolgen der Sklaverei, die weiße Dominanz, wieder das Vertuschen: Rassismus ist das amerikanische Thema, betont Nancy Buirski und belebt die Interviews in ihrem Film mit Szenen aus den sogenannten race movies jener Zeit, Filmen von Schwarzen für Schwarze, die die alltägliche Diskriminierung aus deren Sicht schildern. So eröffnet Buirski eine Gegenlesart zur offiziellen Geschichtsschreibung und holt eine vergessene Kinokultur ans Licht.
Wider den Wiederholungszwang
Geschichte wiederholt sich, sagt Buirski. Deshalb gehört beides zur amerikanischen Gegenwart, die „Black Live Matters“-Bewegung und das rassistische Attentat von Charlottesville. Die Regisseurin plädiert für Beharrlichkeit beim Zutagefördern verdrängter, verschwiegener Geschichte. Nur so lässt sich der Wiederholungszwang hier und da brechen.
Die Welt ist aus den Fugen, der Planet bedroht. Während immer neue Wirbelstürme die USA heimsuchen, hatten diverse Filme zu Festivalbeginn den Klimawandel und die globale Migration verhandelt. Manche plakativ appellierend wie Ai Weiweis globales Flüchtlingspanorama „Human Flow“, manche in fast beiläufigen Sequenzen wie in Robert Guédiguians „La villa“. Die erwachsenen Geschwister, Mittelständler, die sich nach dem Schlaganfall des Vaters im Haus ihrer Kindheit in einem Fischerdorf wiedersehen und sich ihrer teils schmerzhaften Vergangenheit stellen, stoßen auf drei Flüchtlingskinder, die sich an der Küste eine Hütte aus Ästen gebaut haben. Kein Einbruch der Wirklichkeit, keine Relativierung der eigenen Krisen, sondern ein märchenhafter Moment, der die Realität aushebelt. Die zwei kleinen Jungs halten sich unentwegt an den Händen. Es ist nicht leicht, den Unzertrennlichen frische Wäsche anzuziehen – das stärkste Bild für die Verlorenheit der Kinder auf der 74. Mostra.