Darren Aronofsky auf der Berlinale: Der freie Radikale
Darren Aronofsky ist als Regisseur bildstarker Indie-Filme bekannt geworden – Blockbuster kann er aber auch, wie "The Wrestler" und "Black Swan" eindrucksvoll bewiesen haben. Mit 45 Jahren gehört Aronofsky zu den jüngsten Jurypräsidenten der Berlinale-Geschichte.
Traue keinem unter fünfzig, wenn es um die Wahl des Jurypräsidenten geht – so lautet ein ungeschriebenes Berlinale-Gesetz, das nur ganz selten außer Kraft getreten ist, etwa 2000 für die 34-jährige Gong Li oder 2003 für den 42-jährigen Atom Egoyan. Auch Darren Aronofsky gehört zu den jüngsten Präsidenten in der Geschichte des Festivals. Mittendrin, am 12. Februar, wird er seinen 46. Geburtstag feiern.
Seine Festivalkarriere ist genauso alt wie die Filmkarriere. Schon mit seinem Debüt „Pi“, einem mit 60 000 Dollar finanzierten Psychothriller über ein paranoides Mathematikgenie, gewann er 1998 den Hauptpreis auf dem Sundance Film Festival. Und seine zweite Regiearbeit lief gleich in Cannes, mit drei aufeinanderfolgenden Filmen wurde er nach Venedig eingeladen. Hier gewann er 2008 für „The Wrestler“ den Goldenen Löwen, hier leitete er auch 2011 die Jury.
Darren Aronofsky hat eine großzügige Kunstauffassung
In Sachen Festivalerfahrung ist er also top-qualifiziert für die Berlinale. Und obwohl Aronofsky allgemein mit body horror assoziiert wird – fünf seiner bislang sechs Filme handeln, drastisch ausgemalt, vom Raubbau am Körper – , ist er ein vielseitig interessierter Mann mit einer großzügigen Kunstauffassung, in der ein Altmeister wie Akira Kurosawa ebenso seinen Platz hat wie die moderne Videoclip-Ästhetik. Derselbe Regisseur, der schmerzhafte Verlierergeschichten erzählt, fühlt sich auch zu Comic-Superhelden hingezogen und war für die Adaption von Batman-, Robocop- und Wolverine- Abenteuern im Gespräch. Sein neuester Film, das 125 Millionen Dollar teure Bibelspektakel „Noah“ (2014), basierte auf einem von ihm selbst verfassten Comic. Ob nun Junkies oder von Gott beauftragte Anführer im Mittelpunkt stehen, immer sind Aronofskys Protagonisten von ihrer Tätigkeit besessen. „Ich interessiere mich für Figuren, die nach Vollkommenheit streben“, hat er einmal gesagt. Und diese Vollkommenheit ist nicht ohne Blutergüsse zu haben, wie Mickey Rourkes „Wrestler“ und Natalie Portmans Ballerina in „Black Swan“ (2010) feststellen. Vorwürfe, er zeige aufgeplatzte Gliedmaßen nur der Schockeffekte wegen, weist Aronofsky von sich. Er sieht das Positive am Schmerz: „Schmerz ist menschlich und gibt uns Gelegenheit, auf uns selbst zu blicken.“ Ob er selbst in voller Konsequenz danach lebt, darf allerdings bezweifelt werden. Bisher sind keine Klagen laut geworden, er würde sich oder seine Darsteller quälen. Oder fast keine: Natalie Portman empfand einige der Tanzszenen aus „Black Swan“ als Tortur. Aber die standen im Drehbuch, an das hat sich Aronofsky nur gehalten. Seine Beziehung mit der Schauspielerin Rachel Weisz endete friedlich und freundschaftlich, beide teilen sich weiterhin die Erziehung des gemeinsamen Sohnes. Darren Aronofsky ist somit das völlige Gegenteil zu seinen Figuren: ein Perfektionist, der weiß, wo die Grenzen liegen. Die Berlinale-Jury hat von ihm keine Wutanfälle zu befürchten.
Er brachte Mickey Rourke eine Oscar-Nominierung - und Natalie Portmann die Trophäe
Der Mann arbeitet – höchst ungewöhnlich in Hollywood – trotz seines Aufstiegs vom obskuren Kritikerliebling zum multiplextauglichen Großregisseur, noch immer mit demselben Kameramann und demselben Komponisten wie bei seinem Debütfilm. Vielleicht ist er anhänglich. Wahrscheinlicher ist, dass er schon als Student am American Film Institute Wert auf Perfektion legte und konkrete Vorstellungen von der Bild- und Tonebene hatte. Matthew Libatique lieferte ihm für „Pi“ exakt die Bilder, die Aronofsky haben wollte. Und Clint Mansell, der Sänger und Gitarrist der inzwischen aufgelösten britischen Band Pop Will Eat Itself, die richtigen Klänge. Vor allem mit seinen Bildideen hat Aronofsky Aufsehen erregt. Um dem Publikum Migräneanfälle und die Wirkung von Psychopharmaka näherzubringen, setzte er die Snorricam ein, eine am Bauch des Darstellers befestigte Kamera, die nach zwei isländischen Fotografen benannt wurde. Bei Snorricamaufnahmen wackelt alles, nur das Gesicht des Trägers bleibt ruhig. Intensiviert wurde die hypnotisierende Wirkung solcher Aufnahmen durch die vom Regisseur so getaufte Hip-Hop-Montage, die bei seinem zweiten Film „Requiem for a Dream“ (2000) Überstunden im Schneideraum erforderte. Rund 2000 Schnitte weist dieses Drogendrama auf, üblich sind 600 bis 700. So auffallend und manchmal selbstzweckhaft die Technik sein mag, Aronofsky verliert nie die Schauspieler aus den Augen. Mit „Requiem for a Dream“, der Adaption eines Romans von Hubert Selby Jr., verhalf er Ellen Burstyn zu ihrer ersten Oscar-Nominierung seit zwanzig Jahren. Den späteren Stars Jared Leto und Jennifer Connelly gab er ihre ersten anspruchsvollen Aufgaben. Bei „The Wrestler“ und „Black Swan“ stellte er sich ganz in den Dienst der Schauspieler, was Mickey Rourke ein glorreiches Comeback inklusive Oscar-Nominierung und Natalie Portman einen Oscar eingebracht hat.
Manchen Aronofsky-Anhängern waren diese Kämpfergeschichten ästhetisch zu konventionell. Immerhin steht dieser Regisseur zu jedem seiner Filme, auch zu den umstrittenen, religionsphilosophisch angehauchten Blockbustern „The Fountain“ (2006) und „Noah“, mit denen er sich vielleicht etwas übernommen hat. Aufgezwungen wurden sie ihm nicht: „Ich bin stolz darauf, dass ich nur Filme gedreht habe, die ich wirklich machen wollte.“ Dabei war ihm das Publikum eine große Hilfe. „Black Swan“ und „Noah“ haben jeweils über 300 Millionen Dollar eingespielt. Aronofsky hat somit nicht nur Talent und Glück, er hat auch Kredit.