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Unterwegs. In der Hafenstadt Myrtili auf Lesbos. Auf der griechischen Insel sind die Hotelbuchungen um 90 Prozent zurückgegangen, seit syrische Flüchtlinge dort stranden.
© picture alliance / dpa

Flüchtlinge und Tourismus: Alles inklusive, aber nicht für alle

Was ist mindestens so schlimm wie die große Süd-Nord-Wanderung? Dass die Nord-Süd-Wanderung ausbleibt. Vom Verreisen und Erholen in Zeiten globaler Massenmobilität.

Zurzeit sind zweierlei Gruppen von Menschen weg von Zuhause. Sie schleppen Gepäck an Bahnhöfen, Häfen, Flughäfen. Sie schlafen auf fremden Matratzen, schwitzen in der Sommerhitze, suchen sich zurechtzufinden im neuen Ambiente. Es sind Millionen Menschen.

Massenmobilität von Süden nach Norden heißt Not. Massenmobilität von Norden nach Süden heißt Privileg. Das eine wird Flucht genannt, das andere Ferien. In Berlin beginnen sie am heutigen Mittwoch. Impuls der Fluchtbewegung ist das „Weg-von-hier“. Zur touristischen Reisebewegung gehört das Hin-und-zurück. Rauf auf den Berg - und später wieder runter, rein in die Stadt. Ran an den Strand - und dann wieder heimgerollt. Bei der Flucht ist das genaue Ziel unbestimmt, die Reise nicht buchbar. Wer zur Flucht aufbricht, ahnt kaum die Dauer des Unterwegsseins, weiß wenig oder nichts über Ankunftsort, Bettenzahl pro Raum, Verpflegung, Badausstattung, Freizeitangebote, Kosten und Risiken, auch wenig oder nichts über ein mögliches Zurück. Raus aus den Trümmern – und vor sich das Ungewisse.

Bei der Ferienreise wird das Ziel oft sorgfältig ausgesucht, sie ist planbar, buchbar, versicherbar. Fahren, fliegen, segeln, zelten, alles zu haben. Per Video im Netz wird das Hotel oder das Apartment vorbesichtigt, man entscheidet sich für Meerblick, Außenpool, Nachtbars, Garni oder Halbpension, all inclusive. Daheim gießt der Nachbar die Blumen, hütet die Katze.

Von der griechischen Insel, dem sizilianischen Seebad, der türkischen Riviera hat der Tourist aus Berlin, Hannover oder Passau geträumt. Dort angekommen, das jedenfalls kann passieren, trifft er auf Leute, die aus dem Süden des Südens herkamen, die in Zelten leben und von Berlin, Hannover oder Passau träumen.

Vorsicht vor moralischer Verurteilung des Tourismus ist geboten

Was sind das für Zeiten? Die einen schwimmen, schlemmen, schlendern und gehen Schlösser besichtigen. Wie Bettler stehen die anderen in der Schlange vor der Essensausgabe des Roten Kreuzes und vor den Duschgehäusen der Massenunterkünfte. Es herrschen haarsträubende Missverhältnisse, ein groteskes Ungleichgewicht von Not und Chancen, Mangel und Wohlstand, Migrationsdruck und Reisefreude, Zwang und Freiwilligkeit.

Alles inklusive – aber nicht alle inklusive. So sieht es aus. Doch Vorsicht ist geboten vor einer konstruierten Korrelation zwischen den beiden Arten der Reisebewegung, Vorsicht vor der moralischen Aufladung oder gar der Verurteilung des Tourismus als Zynismus in Zeiten der erzwungenen Mobilität. Denn ein faktisches, moralisches Korrelat ist hier nicht gegeben. Nein, Touristen haben die Kriege im Nahen Osten nicht verursacht, die ökonomische Not im Maghreb nicht produziert. Viel Kritik, berechtigte Kritik wird am Massentourismus geübt. Ganze Landschaften wurden durch ihn zur Ware, Horden ignoranter Besucher grasen Kulturdenkmäler ab, gefährden durch ihre schiere Menge archäologische Stätten. Das Gegröle Betrunkener ertönt in schönen Altstädten wie an Strandpromenaden, überdies hat die Mobilität Abfallhalden, CO2-Ausstoß und saisonales Verkehrschaos zur Folge. Köstlich karikiert wurden Massen-Fernreisende 1988 im Spielfilm „Man spricht deutsh“ von und mit Gerhard Polt.

Doch seit Beginn des Massentourismus, einem Phänomen vor allem der nördlichen Industrienationen, brachte er den Zielländern im sonnenreichen Süden auch einen stetigen Zuwachs an Wohlstand. Wer vor fünfzig, sechzig Jahren als griechischer Bauernsohn die Grabungsstätten antiker Spolien bewachte oder am Ort tätige Archäologen bewirtete, der konnte auf einem Stück Acker ein oder zwei Hotels errichten und ist inzwischen reich genug, sogar die Krise besser zu überstehen als viele andere. Tausende von Ferienunterkünften, abertausende Tavernen, Trattorien, Imbisse, Cafés, Boots- und Liegestuhlverleihe bringen Erlös, auch Läden mit Souvenirs und Boutiquen mit Badekleidung.

Sich vergraulen lassen, ist ein Sieg für den Terror

Unterwegs. In der Hafenstadt Myrtili auf Lesbos. Auf der griechischen Insel sind die Hotelbuchungen um 90 Prozent zurückgegangen, seit syrische Flüchtlinge dort stranden.
Unterwegs. In der Hafenstadt Myrtili auf Lesbos. Auf der griechischen Insel sind die Hotelbuchungen um 90 Prozent zurückgegangen, seit syrische Flüchtlinge dort stranden.
© picture alliance / dpa

Die größte Katastrophe neben der verzweifelten Süd-Nord-Wanderung ist vielerorts das Ausbleiben der fröhlichen Nord-Süd-Wanderung. Mehr denn je fahren die Deutschen vor allem nach Deutschland in Urlaub. Orte in der Mitte friedlicher Länder, die Terror erfahren haben, Städte wie Paris, Nizza oder Istanbul, werden zunehmend gemieden. Auch die Länder des Arabischen Frühlings, Ägypten oder Tunesien, leiden seit Jahren unter der Angst der Urlauber vor instabilen Verhältnissen. Sich davon vergraulen zu lassen, dass etwas Schlimmes geschehen war oder wieder geschehen könnte, ist aber ein Sieg für den Terror. Die Ängste, so verständlich sie sein mögen, sind immer auch irrational. Statistisch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Schaden bei einem Unfall in der eigenen Küche erleidet, enorm höher als diejenige, an einem bekannten Urlaubsort einen Anschlag zu erleben. Dass es sinnvoll ist, sich das in aller Klarheit vor Augen zu halten, darauf hat der Politikwissenschaftler Herfried Münkler nach den Ereignissen von Nizza hingewiesen. Die moralische Frage nach Nicht-Demokratien als Urlaubsziel ist schon schwierig genug.

Bei der Terrorangst sind die Geschädigten meist beide, das Gastland, das leer ausgeht, und der potenzielle Gast, der es nicht zu sehen bekommt. Auch fernbleiben, weil ein Ort als Ziel von EU-Flüchtlingen bekannt ist, nutzt niemandem. Lesbos, die kleine griechische Insel, ist ein bitteres Beispiel dafür. Laut dem UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, harren auf Lesbos derzeit etwa 4300 Geflüchtete aus, die darauf hoffen, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden. Einen knappen Monat sind sie in einer Notunterkunft eingesperrt, erst dann dürfen sie sich frei bewegen. Bisher geht das alles, so wird berichtet, relativ friedlich vor sich. Viele Einwohner haben als Freiwillige beim Versorgen der Gestrandeten geholfen.

Niemandem ist mit Abstinenz gedient

Die Ferienreisenden, auch und gerade diejenigen, die seit Jahren immer wieder herkommen, scheuen den Ort und weichen auf andere Ziele aus. Gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der Charterflüge nach Lesbos 2016 um zwei Drittel gesunken, die Hotelreservierungen gingen sogar um 90 Prozent zurück. Die Kaffeemaschinen schweigen vor unbesetzten Tischen. Manche Restaurantwirte machen sich, mitten in der ohnehin herrschenden Wirtschaftskrise, auf den Ruin gefasst.

Schlimmer könnte es kaum kommen, für alle Beteiligten. Den Insulanern entgeht das Einkommen, ihre Hilfsbereitschaft nimmt entsprechend ab, den Flüchtlingen wird weniger zuteil, sie könnten zu Sündenböcken werden. Den Nicht-Reisenden entgeht das Erleben der Insel, die Erholung dort, die Erfahrung einer bezaubernden Fremde. Niemandem ist mit der Abstinenz gedient.

Die Erfahrung des Neuen: Sie gehört in den „Reisekatalog jenseits der Ware“, das bestreitet auch kein herzlich-derber Satiriker wie Polt. Sinnlos, arrogant und herzensungebildet ist es nämlich, all jene zu verachten, die „einfach mal wegwollen“, aus dem Wohnblock, der Routine, ihrem Alltag. Noch die gemietete Bretterbude in der Bretagne oder das Dreierzimmer im Hotelhochhaus vor den Palmen der Balearen löst, zumal für die offenen Sinne von Kindern, eine Ahnung vom Anderen aus, das es auf der Welt eben auch geben kann.

Also, nur los.

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