Männergesellschaft Türkei: Auch das Patriarchat hat ein Verfallsdatum
Der Putsch ist gescheitert, das Patriarchat triumphiert. Aber die Emanzipation der längst globalisierten Türkei wird nicht aufzuhalten sein.
Auf eine dramatische Nacht in der Türkei war niemand gefasst. Schock folgte auf Schock. Gerade noch säuberten Räumfahrzeuge der Stadtreinigung die Strandpromenade von Nizza, packten Müllmänner blutige Kinderkleidung in Plastiksäcke, suchten fassungslose Politiker nach Worten, da blitzten neue Bilder auf den Schirmen auf: Putsch in der Türkei! Putsch gegen Recep Tayyip Erdogan, den zunehmend als Alleinherrscher regierenden Präsidenten, der sein Land immer stärker in den Islamismus zu treiben scheint.
Bei aller Ablehnung des Militärischen, aller Skepsis gegenüber undemokratischem Machtwechsel – ein Funke Hoffnung war dabei. Denn traditionell gilt die türkische Armee, der legendäre „Staat im Staat“, als laizistisch, säkular und aufklärungsnah. Hätte das vielleicht den Trend gebremst? Und welche Reform müsste überhaupt zum Zug kommen, damit das geschähe?
Männer sah man auf den Bildern, wo man hinblickte. Männer in Uniform oder Zivilkleidung, Männer in den Militärfahrzeugen, Männer an den Mikrofonen der Medien, Männer gegen andere Männer – schreiend, zornig, Fäuste schüttelnd auf den Straßen. Der Befund ist so banal wie signifikant: Das Land ist noch immer ein von Männern völlig dominiertes Territorium. Im privaten wie im öffentlichen Raum haben sie das Sagen. Symbolisch dafür stehen die Teehäuser und Cafés, auch in von türkischen Migranten geprägten Stadtteilen Deutschlands, in denen man nie eine Frau sitzen sieht. Der Zugang wird ihnen nicht einmal durch Schilder verwehrt – es versteht sich von selber, dass Frauen diese Räume nicht betreten. Eben auch nicht die Räume der Macht.
Doch die Säkularisierungsschübe der Vergangenheit, der nachwirkende Kemalismus sowie die rasante Geschwindigkeit, mit der im Zeitalter der Globalisierung die Informationsströme fließen, verändern die Lage – zumal in den Städten. In Ankara wie Istanbul gibt es gebildete Frauen, Geschäftsfrauen, Anwältinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen. Seit Atatürks Revolution von oben, die 1924 begann, drangen Frauen von den Rändern her in viele Lebensbereiche vor. Seit 1930 durften sie zunächst bei Regionalwahlen ihre Stimme abgeben, ab 1934 auch bei den Nationalwahlen. Widerstand der traditionellen Milieus gab es von Beginn an. Bis heute kämpfen Feministinnen wie Nebahat Akkoc gegen Polygamie, Ehrenmorde, Analphabetismus und Diskriminierung der weiblichen Bevölkerung – mit einem Wort: gegen das Patriarchat. Wie Akkoc bezahlen viele ihr Engagement noch mit Haft und Folter.
Atatürks Projekt war von Beginn an auf Widerstände gestoßen. Nicht selten zwang erst Polizeigewalt Väter und Mütter dazu, Mädchen in die Schulen zu schicken – so groß war bei vielen die Furcht, Frauen würden ihre Rolle im Haushalt und als Dienerin des Mannes verlieren. In seiner monumentalen Studie „Die geführte Familie“ von 2013 schildert Paul Ginsborg die sozialen Verwerfungen beim Übergang vom Osmanischen Reich zur türkischen Republik. Sinnbildlich für die Stellung der Frau sind ländliche Hochzeitsriten, etwa in Anatolien. „Die Zeremonie unterstrich vor allem die Ungleichheit der Geschlechter, die Trauer der Braut beim Verlassen ihrer Ursprungsfamilie und ihre sofortige Unterwerfung in der Familie des Bräutigams. Klagend und weinend wird die Braut in einen Innenraum des Hauses geführt, um für den Mann angekleidet zu werden. „Von diesem Moment an darf sie, bis sie irgendwann mit ihm allein ist, kein Wort sprechen, sondern weint nur ununterbrochen“, zitiert Ginsborg aus dem ethnografischen Klassiker „The Turkish Village“ von Paul Stirling.
Schluss mit den Tränen!
Türkische Frauen, ebenso wie Millionen andere in der patriarchalisch geprägten Welt, haben diese traditionellen Tränen der Unterdrückung satt – und mit ihnen eine wachsende Anzahl moderner Männer. So wird die Berufung auf höhere Mächte – Allah, den Islam – ein Kampfmittel des Patriarchats gegen die Modernisierung der Gesellschaft, ein Mittel, das sich auch in der Pervertierung des Islamismus offenbart.
Allein – mit welchen Mitteln auch immer die Männergesellschaft sich gegen Veränderung sperrt, welche Gewalt auch immer sie anwendet: Der Wandel der Geschlechterrollen, und wird er noch so sehr als „Verwestlichung“ diffamiert, ist im Gange. Unaufhaltsam ist er geworden, zumal mit der digitalen Umwälzung der Öffentlichkeit zur Weltöffentlichkeit. Mit ihr dringt er in die Dörfer vor, in jedes Milieu. Auch ein islamisierter Neo-Sultan wie Erdogan wird ihn nicht aufhalten können, nur bremsen, nur verzögern.
Daran, wie lang die blutige Bremsspur wird, wie sehr der Fortschritt hinausgezögert wird, misst sich der Preis, den die Gesellschaften für diese Verzögerung durch den Islamismus zahlen. Die nächsten, die jetzt zahlen, sind erst einmal Männer. Denn mit den Putschisten der Freitagnacht wird die Macht, das zeichnet sich ab, brutal verfahren. In der Geschichtsschreibung aber wird ihr Versuch eine Episode sein auf dem langen Weg zur Emanzipation, die nie allein eine der Frauen ist. Sie hilft immer der gesamten Gesellschaft, beiden Geschlechtern. Und sie ist nicht westlich, sondern ein universelles Recht der Menschen.