Leben mit der Flüchtlingskrise: Die Küstenwache
Zwei Männer, die auf den entgegengesetzten Ufern in der Türkei und in Griechenland leben. Seit letztem Jahr stehen sie im Mittelpunkt der Geschichte, weil Tausende Menschen über das Meer fliehen, das zwei Kontinente trennt
Sie kennen sich nicht, doch diese beiden Männer leben dort, wo zuletzt die Hauptfluchtroute über die Ägäis führte, wo zwischen der Türkei und Griechenland keine zehn Kilometer liegen. Der eine hat sein Haus an der türkischen Westküste, der andere an der Nordküste von Lesbos. Etwa eine halbe Million Flüchtende wählten 2015 diese Strecke, die Hälfte aller Menschen, die nach Europa flohen. Über Monate hinweg haben die Männer den Flüchtlingstreck vor ihrer Haustür gesehen – hier erzählen sie davon.
Bodo B., Rentner, 72, Bektas, Türkei
Es begann mit einem Geräusch: ein helles Summen, wie von Hornissen. Der Ramadan war gerade zu Ende, es war Ende Juli. Meine Frau Bärbel und ich suchten vom Balkon unseres Hauses aus das Meer ab. Da sahen wir erst ein, dann zwei Schlauchboote, beladen mit Menschen in orangefarbenen Schwimmwesten.
Seit etwa 13 Jahren haben wir ein Haus an der türkischen Westküste. Als wir in Rente gingen, sind wir aus Bremen ganz hierhergezogen. Immer wieder mal haben wir Hinterlassenschaften von Flüchtlingen am Strand gefunden: Kleidung, Überreste von Lagerfeuern.
Schleuser wiesen Flüchtlinge an den Booten ein
Von jenem Tag im Juli an hörten wir das helle Summen der Schlauchbootmotoren jeden Tag. Jedes Mal stellten wir uns mit dem Fernglas auf die Terrasse oder den Balkon. Sobald wir ein Boot entdeckt hatten, ließen wir es nicht aus den Augen. Diese Überfahrten liefen nie routiniert ab, die Boote lenkten die Flüchtlinge selbst, die erst kurz vorher von den Schleusern eingewiesen worden waren.
Öfters erlebten wir auch, wie die Boote mitten im Meer stoppten oder von der türkischen Küstenwache aufgebracht wurden. Die Nummern der Küstenwache hatten wir stets parat, später auch Telefonnummern privater Hilfsorganisationen, die mit Rettungsbooten von Lesbos aus operierten. Wir fühlten uns immer mehr für die Menschen verantwortlich, die vor unserer Haustür nach Lesbos ablegten, vor allem für die vielen kleinen Kinder. Ständig standen wir unter Strom.
Das Handy klingelt: der Schlepper
Als ich den Flüchtlingen das erste Mal näher kam, fragte ich vorsichtig, woher sie kamen. Die Antwort hat mich so erschüttert, dass ich sie bis heute genau erinnere: „Wir kommen vom Tod und gehen in den Tod.“ Ich habe die Gruppe, 14 Leute, zu uns eingeladen. Zuerst zögerten sie, aber dann kamen alle mit.
Sie stammten aus Syrien. Wir haben Tee gekocht, ihnen Wasser, Schafskäse, Tomaten und Brot gegeben, ihnen angeboten, sich hinzulegen, ihre Handys aufzuladen. Sie berichteten von den Bomben in Aleppo und in Damaskus, vor denen sie sich in Sicherheit bringen wollten, eine junge Frau brach in Tränen aus. Nach ein paar Stunden klingelte ein Handy. Es war wohl der Schlepper. Alle sprangen auf, verabschiedeten sich hastig und liefen zum Strand.
Der teilnahmslose Blick der Kinder
Sieben, acht Mal hatten wir Bootsflüchtlinge bei uns zu Gast. Immer waren es welche, deren Überfahrt gescheitert war, die mehr oder weniger gut zurückgekommen waren und auf die nächste Passage warteten. An den Stränden in unserer Nähe gibt es keine Restaurants, keine Unterkünfte, kein Süßwasser. Nur Olivenhaine.
Eines Abends entdeckte ich auf dem Meer ein Boot, das offenbar einen Motorschaden hatte. Die Passagiere versuchten mit den Händen zurück an die Küste zu paddeln. Ich wartete am Strand. An diesem Abend schliefen 40 Leute bei uns. Sie berichteten, dass die türkische Küstenwache mit Stangen auf den Bootslenker eingeschlagen und den Motor zerstört hatten. Einige Kinder wirkten verstört. Ihren toten, teilnahmslosen Blick fand ich belastend.
An einem Nachmittag knallte es laut am Nachbarstrand. Es klang wie Schüsse aus automatischen Waffen. Sofort ging ich hinunter. Ich beobachtete, wie zwei Männer etwa 50 verschreckte und unwillige Menschen auf ein kleines Schlauchboot drängten. Einer schoss immer wieder mit einer Pistole in die Luft, wohl um die Flüchtlinge gefügig zu machen. Als sie mich entdeckten, zielte er mit der Waffe auf mich. Ich habe mich umgedreht und bin schnell weggerannt.
Blinde Beamte
An einem Sonntag im November hörten wir dann in den Nachrichten, dass die Europäische Union der Türkei drei Millionen Euro zahlen würde, damit sie die Grenze sichert und die Flüchtlinge zurückhält. Am nächsten Morgen waren die Boote und die Menschen verschwunden.
Unser Dorf liegt an einer Stichstraße, wer hierherkommt, muss an einer Gendameriestation vorbei. Die Minibusse der Schlepper waren jeden Tag voll mit Flüchtlingen ungehindert daran vorbeigefahren, niemand hatte sie aufgehalten. Jetzt aber sperrten die Beamten plötzlich die Straße, machten nachts Lagerfeuer, um ihre Präsenz zu zeigen.
Jetzt Friedhofsruhe
Wenig später hörte ich in den Nachrichten immer häufiger von Schiffsunglücken im Süden. Die Schlepper brachten die Menschen offenbar zu anderen Stränden, wo Lesbos weiter weg und die Überfahrt gefährlicher war.
Bei uns herrscht Friedhofsruhe. Statt des ständigen hellen Surrens der Motoren hören wir manchmal die Helikopter der Küstenwache. Statt der Flüchtlingsboote sehen wir ein graues Kriegsschiff in der Meerenge und die Patrouillen der türkischen Küstenwache.
Irgendwie sind wir froh, dass wieder Alltag eingekehrt ist, irgendwie nicht. Es war sehr anstrengend, aber auch bereichernd. Ich denke oft an die Menschen, die wir kennengelernt haben.
Ein Künstler wird politisch
Eric Kempson, Künstler, 60, Lesbos, Griechenland
Ich kann mich nicht erinnern, in den vergangenen 20 Jahren viel geweint zu haben. Aber in den vergangenen Monaten habe ich fast jeden Tag geheult. Wenn die Flüchtlinge bei uns ankamen, waren sie so glücklich, so erleichtert, dass sie sangen, tanzten, beteten, sich und uns umarmten. Das bewegte mich jedes Mal.
All die Menschen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und Iran wussten genau, dass sie ihr Leben und das ihrer Kinder bei der Überfahrt aufs Spiel setzten. Sie taten es trotzdem, weil sie dort, wo sie herkamen, keine Chance auf ein würdevolles Leben sahen. Und natürlich habe ich geweint, weil ich verdurstete Babys und immer wieder Wasserleichen gesehen habe.
Leere Schwimmweste für Babys
Im Februar vergangenen Jahres entdeckten meine Frau Philippa und ich bei einem Spaziergang am Strand vor unserem Haus eine leere Babyschwimmweste, ein paar Meter weiter eine Puppe. Seit wir auf der Insel leben, sind Flüchtlinge aus der Türkei gekommen. Aber Babys und Kleinkinder hatten wir nie gesehen.
Nach jenem Fund standen meine Frau und ich jeden Tag im Morgengrauen auf, um die türkische Küste mit Ferngläsern nach Schlauchbooten abzusuchen und dann die Küstenwache zu alarmieren. Jeden Morgen entdeckten wir mehr Boote. Oft kenterten sie vor unseren Augen, weil sie einen Felsen gerammt hatten, Wasser hineinlief oder ein Schlauch platzte.
Der Junge klammerte sich fest
Einmal bin ich mit meiner Tochter hinausgeschwommen, um ein Kleinkind zu retten. Die Schwimmweste, die der Junge trug, war zu groß oder eine Fälschung, er strampelte wild um sich und schien unterzugehen. Als wir ihn erreichten, klammerte er sich sofort an meine Tochter. Ich stützte ihn, denn die nassen Klamotten zogen ihn nach unten. Ein paar Mal habe ich beobachtet, wie die türkische Küstenwache Flüchtlinge mit Wasserwerfern und Stangen attackierte und Schlauchboote zum Sinken brachte.
Wir empfingen die Menschen, die es zu uns schafften, mit Wasser, Essen und trockener Kleidung. Anfangs haben wir sie auch bis in die Inselhauptstadt Mytilene gefahren, fast 50 Kilometer von uns weg, wo die Fähren nach Athen ablegen. Bis Juli war das verboten, der Transport von Flüchtlingen galt als Menschenschmuggel. Uns war das egal. Das wahre Verbrechen ist es doch, die erschöpften Menschen stundenlang in der prallen Sonne laufen zu lassen!
Freiwillige aus der ganzen Welt
Von Juli an kamen aber jeden Tag so viele Boote, dass wir nicht mehr alle zur Fähre bringen konnten. Wir waren dauernd am Strand im Einsatz – und nicht wir allein. Aus dem Dorf brachten Frauen etwas Wasser, Obst, Käse, Brot, viele Urlauber halfen.
Das Bild des toten kurdischen Jungen am Strand führte Freiwillige aus der ganzen Welt zu uns, im August empfingen wir die Flüchtlinge mit 60 internationalen Helfern. Unser Haus wurde zum Lager, überall stapelten sich Kisten mit Decken, Kleidern, Lebensmitteln. In dem Laden, wo wir früher meine Skulpturen aus Olivenholz verkauften, quartierten wir nun Familien ein, damit sie sich erholen konnten für die nächste Etappe. Der Platz reichte nie.
Ärger mit den Nachbarn
Im Spätsommer haben wir deshalb ein leer stehendes Hotel gemietet, ein paar Kilometer von unserem Haus entfernt. Wir haben ganz offiziell bei der Inselverwaltung eine Lizenz beantragt, um dort Flüchtlinge beherbergen zu dürfen. Jetzt mussten wir schließen und sollen außerdem noch ein Bußgeld zahlen, weil wir ohne Genehmigung Menschen bei uns beherbergt haben.
Der Boykott gegen unser Projekt hat wahrscheinlich mit unseren Nachbarn zu tun. Sie werfen uns vor, wir würden die Urlauber vergraulen, weil wir Flüchtlinge anlocken. Die Menschen hier leben vom Tourismus, seit der Krise zahlt die Krankenkasse kaum noch Behandlungen, die Pensionen wurden gekürzt.
Auf der Straße angespuckt
Die Nachbarn glauben, wir und die Flüchtlinge seien für die wirtschaftlichen Probleme verantwortlich. Zuerst kamen anonyme Drohungen, per Brief und am Telefon. „Hört auf, Flüchtlinge zu holen“, schrieb einer. „Haut ab!“, ein anderer. Irgendwann traf uns der Hass ganz offen, ein Mann spuckte mir ins Gesicht. Aber zum Glück unterstützen uns auch viele. Vor ein paar Tagen hat eine niederländische Kirchengemeinde 400 Euro für unser Flüchtlingshaus gespendet.
Auch wenn jetzt nur noch selten Flüchtlinge auf Lesbos ankommen, fällt es mir schwer, mich wieder auf meine Kunst zu konzentrieren. Was wir in den vergangenen Monaten erlebt haben, hat mich verändert. Ich bin politischer geworden. Auf Veranstaltungen in ganz Europa berichtete ich, was wir hier erlebten, auch in Videos auf Youtube.
Am Anfang hatte ich Hoffnung, dass die Bilder und Berichte ein Bewusstsein für das Schicksal der Flüchtlinge schaffen, dass nach menschlichen Lösungen gesucht wird. Aber dann wurde die Grenze einfach geschlossen, die Menschen auf der anderen Seite des Meeres ihrem Schicksal überlassen.