Filmkritik zu "'71" und "Jack": Renn, Junge, renn!
Ein Soldat in Belfast und zwei Brüder in Berlin – alle sind sie auf der Flucht. Die zugehörigen Filme „’71“ und „Jack“ sind indes sehr unterschiedlich - und stehen im Berlinale-Wettbewerb.
Die Gewalt ist da, bevor das erste Bild erscheint. Die Leinwand bleibt schwarz, aus dem Off ertönen Anfeuerungsrufe. „Los, gib’s ihm! Schlag härter zu!“ Dazu die Geräusche von Körpertreffern. Aber alles halb so schlimm, es ist bloß ein Boxkampf. In der militärischen Ausbildung, jedoch im geschützten Terrain. Vorerst.
Der Franzose Yann Demange war vor fünf Jahren Teilnehmer des Talent Campus der Berlinale und führte bislang vor allem Regie für TV-Serien. Mit „’71“ präsentiert er nun sein Langfilmdebüt. Es verlässt schon früh das sichere Trainingsgelände, spielt in der heißesten Phase des Nordirlandkonflikts, in Belfast.
Dabei klingt es für den jungen Rekruten Gary Hook (Jack O’Connell) und seine Kameraden zunächst wenig bedrohlich. „Von wegen Gefahreneinsatz“, ruft einer von ihnen bei der ersten Fahrt durch die nordirische Hauptstadt. „Ich habe gehört, die Mädchen werfen einem hier ihre Höschen zu.“ Brennende Autowracks säumen indes die Straße. Statt Damenunterwäsche fliegen bald mit Urin gefüllte Luftballons auf die Soldaten, Kinder brüllen ihnen nach: „Raus aus unserem Land!“ Es soll erst der Anfang sein. Die britischen Militärs kommen in eine zerrissene Stadt, um im Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten für Sicherheit zu sorgen. Doch sie selbst werden zum Ziel des Hasses. Während einer Hausdurchsuchung eskaliert die Lage, ein Soldat wird erschossen, Hook von bewaffneten irischen Nationalisten durch die Häuserschluchten gejagt. Er entkommt, ist aber fortan von seiner Einheit getrennt. In einer fremden Stadt bricht eine Nacht der Angst für ihn an, in der er nie sicher sein kann, wer Freund und wer Feind ist.
Demange dient der Nordirlandkonflikt als Folie für eine Erzählung über die Sprengkraft ideologischer Verblendung. Er zeigt Belfast als einen Ort, an dem sich konfessionelle Abgrenzung längst zur Mordlust ausgewachsen hat und das Gesetz der Vergeltung herrscht. Kinder gehören darin zu den größten Fanatikern, sie denken in Kategorien von „wir“ und „die“, sind auf der Jagd nach „katholischen Arschlöchern“. Recht bald verliert sich „’71“ in einem Exzess aus Gewalt und Panik, ist dabei jedoch eindringlich inszeniert. Unruhige Handkamera, gelblich- fahles Laternenlicht: eine Stimmung ständiger Bedrohung vor einer Geräuschkulisse aus dumpfen Schlägen, pochendem Puls. Der Film verschont den Zuschauer nicht mit Bildern schwer erträglicher Brutalität. Im Gegenteil: Er überfordert durch seine Drastik – und schafft so letztlich eine Distanz zum Geschehen, die bedauerlich ist. Kaspar Heinrich
8.2., 9.30 Uhr (Zoo-Palast 1), 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 19 Uhr (HdBF), 16.2., 18 Uhr (Berlinale-Palast)
Der einzige friedliche Moment ist schnell vorbei. Jack und sein Bruder Manuel schlafen, die Morgensonne scheint auf die Matratze – und Jack springt auf. Hechtet in die Küche, kippt Müsli und Milch in eine Schale, holt Wäsche vom Balkon, mahnt den Bruder zur Eile, rennt los, mit Ranzen und Brot in der Hand. Er ist zehn, sagt nicht viel, handelt. Entschlossen, atemlos, immer etwas verschwitzt läuft Jack (Ivo Pietzcker) durch Berlin. Siemensdamm, Stadtautobahn, Shoppingmall, Tiefgarage – Regisseur Edward Berger hat die Peripherie zum Schauplatz gewählt, die gesichtslose, indifferente Seite der Stadt.
Ein Junge, stur, zäh, auf sich gestellt, überfordert. Die blutjunge Mutter (Luise Heyer) sucht selber nach Liebe. Sie herzt ihre Kids, „Heute machen wir es uns richtig schön“, aber sie kommt nicht damit klar, wenn sie gebraucht wird. Auch ihre Freunde, Leute, die in Punkschuppen abhängen oder in der O2-Halle jobben, wollen sich nicht kümmern. So laufen Jack und Manuel stundenlang durch die Straßen, driften durch die Nacht. Das Sozialamt steckt Jack ins Heim, dort gibt es eine nette Erzieherin (Nele Mueller-Stöfen, die das Drehbuch mitschrieb), aber er wird gemobbt, schlägt seinen Widersacher nieder, fürchtet das Schlimmste und ist fortan auf der Flucht.
Wieder ein Film mit Handkamera, auf Augenhöhe seines Protagonisten gedreht, aber ohne hektische Schnitte, mit langen Plansequenzen. Wieder ein Film, der Bedrängnis zeigt, höchste Not. Edward Berger, 43, TV-erfahren, macht das redlich, konzentriert sich auf eine Figur, ein Sujet. Kinder ohne Familie: Wie Hundebabys balgen sich die Brüder um die Mutter; der Zimmernachbar im Heim beobachtet Vogelnester, andere Heimkids spielen Kleinfamilie in einer Hausruine.
Man denkt an „Der Junge mit dem Fahrrad“ der Gebrüder Dardenne. Auch da ist ein Junge auf der Suche, nach dem Vater, nach Familie. Auch da ist der Held immer in Eile, stur, unter Druck. Nur dass „Jack“ in der Großstadt spielt. Und dass Berger keine eindrücklichen Bilder findet, in denen sich die Geschichte verdichtet. Ivo Pietzcker immerhin lässt in seiner ersten Filmrolle hinter der Fassade der Tapferkeit die Sehnsucht erahnen, die Einsamkeit, mit der Jack die Fürsorge für den Bruder wahrnehmen und große Entscheidungen treffen muss. Ein Gesicht, das sich einprägt. Das ist schon mal was für den ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag in diesem Jahr.Christiane Peitz
8.2., 9.30 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 12.30 Uhr (HdBF), 18 Uhr (Friedrichstadt- Palast), 9.2., 18.30 Uhr (Toni & Tonino), 16.2., 13 Uhr (HKW)