Widerstand gegen Dercon: Aktivisten wollen Volksbühne besetzen
Weil sie Chris Dercon als Ausdruck der Gentrifizierung betrachten, plant eine politische Gruppe die Übernahme der Volksbühne - inklusive Alternativ-Spielplan.
Der nächste Akt in der dramatischen Posse um die Volksbühne ist eröffnet. Vor einigen Tagen wurde über die Facebook-Seite des Berliner Alexander Verlags ein Aufruf der Gruppe „Staub zu Glitzer“ geteilt, in der diese die Besetzung der Volksbühne ankündigt. Darin heißt es, dass ein Organisationsteam, bestehend aus 48 Personen, seit Monaten „im Verborgenen und in Vollzeit“ einen dreimonatigen Alternativspielplan ausgearbeitet habe. Es ist von einer erwarteten, breiten „Welle der Solidarität" und „Publikumsströmen“ im Falle der Machtübernahme zu lesen. Die Vorbereitungen für den Umsturz sei zudem von Beginn an von einem Dokumentarfilmteam und Journalisten begleitet worden.
Die Motive sind dabei politischer Natur. Ausgehend vom Intendantenwechsel von Frank Castorf zu Chris Dercon fragen sie in ihrem Pamphlet: „In was für einer Stadt wollen wir leben? In welchen Verhältnissen wollen wir arbeiten, wohnen und wirken? Wem erlauben wir unser Leben zu bestimmen?“. Die Aktivisten schlussfolgern: „Das Theaterhaus ist zu einem Symbol geworden für die Stadtentwicklung als Ganzes.“ Einst sei Berlin ein Ort der Sehnsucht gewesen für kreative Menschen aus aller Welt. Mittlerweile herrsche Verdrängung, Ausgrenzung und die „Zerschlagung jeglichen Gemeinschaftsgefühls“ vor, die Stadt sei „einer weltweiten Finanzelite als Beute dargeboten“ worden.
Dercon als Dämon des Finanzkapitalismus
Im Aufruf wird die Auseinandersetzung um die Volksbühne zum finalen Kampf gegen die globale, soziale Ungerechtigkeit stilisiert. Angeprangert werden unsichere Arbeitsverhältnisse, Karrierezwang, Privatisierung, Kommerzialisierung und Sozialabbau, aber auch die Renationalisierungsbestrebungen in Europa und die Situation an den EU-Außengrenzen. Nichts wird ausgelassen.
Chris Dercon erscheint dabei als Dämon des globalen Finanzkapitalismus. Seit Monaten rüsten provinzialistische Gentrifizierungsgegner gegen ihn auf, bis hin zum Vorwurf der Entwurzelung und Internationalisierung. Zur Bekämpfung dieses Übels scheint der Berliner Schollenmentalität mittlerweile jegliches Mittel recht zu sein: Von Drohbriefen und -anrufen mit vulgären und xenophoben Beleidigungen bis hin zu Fäkalien vor den Bürotüren der Mitarbeiter. Die Besetzung der Volksbühne auf Grundlage von Ressentiments scheint da der nächste logische Schritt zu sein.
Pläne beim AStA vorgestellt
Auf Anfrage des Tagesspiegel teilt „Staub zu Glitzer“ nun mit, dass man Journalisten „aufgrund der besonderen Umstände bis zur Pressekonferenz an Tag X vertrösten" müsse. Die Umstürzler haben derweil Spuren hinterlassen. Im Protokoll einer außerordentlichen AStA-Sitzung der Berliner Beuth Hochschule für Technik vom 19. Juni dieses Jahres wird unter dem Tagesordnungspunkt 3 eine Anfrage der „Aktion Staub zu Glitzer" aufgeführt. Aktivisten stellten damals im Namen eines Kollektivs aus Künstlern, Autoren und Studierenden den Plan vor, die Volksbühne und den Rosa-Luxemburg-Platz zu besetzen. Begründet wurde dieser Schritt mit dem „Intendantenwechsel und der damit verbundenen Qualitätsminderung“.
Laut Protokoll sollen im Zuge der Besetzung „sechs bis sieben Bühnen in den Gängen aufgebaut und bespielt werden“. Die angehängte Anwesenheitsliste des Protokolls führt auch den Namen eines Aktivisten auf, der die Planungen vorstellte: Hendrik Sodenkamp.
Personifizierte Kapitalismuskritik
Sodenkamp war einst Assistent des langjährigen Chefdramaturgen von Carl Hegemann an der Volksbühne. Hegemann gehört zu den heftigsten Dercon-Kritikern. Später wurde Sodenkamp zum Gesicht der 2014 in Berlin gegründeten Gruppe „Haus Bartleby - Zentrum für Karriereverweigerung“, einer politischen Gruppierung, die sich mittels Vorträgen, Performances und Publikationen gegen den „kapitalistischen Wachstums- und Karrierefetisch“ engagiert. In einem Newsletter von „Haus Bartleby“ wird kritisiert, dass die Volksbühne unter dem „ewig-gestrigen Kunstmanager Chris Dercon“ in einem "neoliberal-postmodernen Paradigma gleichgeschaltet" werde.
Hendrik Sodenkamp war der Koordinator des performativen Kunstprojektes „Das Kapitalismustribunal“, das 2015 in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, Brut Theater Wien und dem Club of Rome entstand. Darin konnten Internetnutzer auf der Grundlage „des eigenen Erlebens der ökonomischen Wirklichkeit“ Akteure des Kapitalismus öffentlich anprangern. Die Frage der Schuld der Angeklagten wurde in einem Kunstprozess in Wien „fair verhandelt“. In Berlin erfolgt Chris Dercons Verurteilung ohne Prozess, auf Grundlage eines Ticketdenkens, das sich verkürzter und personifizierter Kapitalismuskritik bedient.