Intendantenwechsel an der Volksbühne: Castorf oder Dercon? Das ist hier die Frage!
Castorf oder Dercon? Der Intendantenwechsel an der Berliner Volksbühne ist immer noch Thema, polarisiert und lässt Freundschaften zerbrechen. Warum eigentlich?
Ist es denn schon vorbei? Wann ist es endgültig vorbei? Kann es denn je zu Ende sein? Wann hat das angefangen, das Gefühl, dass es eines Tages doch passieren wird? Dass Berliner Kulturpolitiker, die nicht mehr Klaus Wowereit oder André Schmitz heißen, sondern Michael Müller und Tim Renner, es wagen, dem Theaterkönig Frank Castorf die Abdankung nahezulegen?
Großbritannien hat die Royals, die Oper hat Bayreuth, Berlin und der Rest der Theaterwelt haben Frank Castorf. Wobei Castorf ja auch schon in Bayreuth inszeniert hat, weshalb man sich um seine Zukunft eigentlich nicht sorgen muss.
Wenn 2017 wirklich Schicht ist für Castorf an der Volksbühne, nach 25 Jahren, wird er nicht mehr Intendant sein, sondern nur noch ein Regisseur, um den sich die Bühnen reißen. Das Berliner Ensemble zum Beispiel – da könnte er andocken. Beim neuen Direktor Oliver Reese, der Claus Peymann beerben wird. Der hört auch auf, mehr oder weniger freiwillig. Nach nicht einmal zwanzig Jahren.
Castorf gewinnt also locker gegen Peymann, und gleich in drei Disziplinen: Er war länger Intendant an einem Haus. Er kann sowieso besser motzen und austeilen und auch viel lauter und gefährlicher schweigen. Und er hat Einfluss. Castorfs Volksbühne prägt – immer noch, das hört ja mit dem Ende der Intendanz nicht auf – eine Epoche und einen Stil. Einen Theaterlebensstil. Mit vielen Handschriften: Castorf, Pollesch, Fritsch. Und Marthaler. Schlingensief nicht zu vergessen.
Wohin man kommt: die Volksbühne ist Thema
Aber hier und jetzt geht es nicht nur um Theatergeschichte, die sich schon die Gegenwart einverleibt. Hier geht es um das Sein und das Jetzt. Es sind Theaterferien, aber wohin man kommt, wann immer das Gespräch auf Theater oder Kulturpolitik dreht: Die Volksbühne ist das Thema. Castorf! Renner! Die Schande, dass Chris Dercon 2017 den Laden übernimmt und Castorf verjagt wird! Einerseits. Andererseits: Erleichterung, dass sich endlich etwas verändert am Rosa-Luxemburg-Platz! Dercon oder nicht: Es ist wie die Volksbefragung zu Tempelhof.
Im heißkalten Volksbühnen-Krieg sind Freundschaften zerbrochen und lange Arbeitsbeziehungen. Hate-Mails wurden verschickt, geistige Bunker errichtet. Die Volksbühne ist die Seele der Stadt, und ihr habt sie verkauft. Du lehnst Dercon nicht ab? Dann bist du gegen Frank und ein Verräter! Mit dir rede ich nicht mehr. Es gibt eine Mauer zwischen denen, die noch an Castorf glauben, an seine ewige Regenerationskraft, und denen, die seinen finsteren, sechsstündigen Kulturschuttplatzpartys nicht mehr viel abgewinnen können, ob es nun um Brecht geht oder Malaparte oder Dostojewski. Die sich unbehaglich fühlen in diesen Endmoränen der Theaterkunst oder sich einfach langweilen.
Die Spielkultur fußt auf Erschöpfung, Ausbeutung und harter körperlicher Präsenz
Die Gefühlslage hat sich über den Sommer durch den plötzlichen Tod von Bert Neumann noch verdunkelt. Der Bühnenbildner, Architekt, Designer der Volksbühne starb im Juli mit 54 Jahren an einem Asthmaanfall. Schrecklicher hätte das Schicksal oder der Theatergott – oder welcher herzlose Irre sonst die Finger im Spiel hat bei diesen letzten Dingen – es einem nicht vor Augen führen können, wie endlich die Vorstellung ist, die man Leben nennt. Theaterleben. Und dann verbindet sich das, als wäre es eine fatale Straßenkreuzung: Bert Neumanns Sterben und das angekündigte Ende der Ära Castorf in zwei Jahren.
Das ist keine kurze Zeit. Zwei ganze Spielzeiten. Nur gelten an der Volksbühne von jeher andere Zeitgleichungen. Die Langsamkeit ist hier entdeckt worden, von Christoph Marthaler, aber auch von Frank Castorf. Zumal in Bert Neumanns Bühnenbauten, die Wohnungen sind. Da lässt man sich nieder, um abzuhängen, sich auf virtuose Art und Weise zu langweilen. Dabei wird leicht übersehen, dass diese Spielkultur auf Erschöpfung, Ausbeutung menschlicher Ressourcen, harter körperlicher Präsenz fußt – wie im Zirkus.
Das Castorf-Theater hat sich von Anfang an als Aufenthaltsort verstanden, und zwar auf Dauer. Man geht hinein, um zu bleiben. Um in einem Zustand aggressiv-witziger Beobachtungspassivität zu verweilen, wobei die Grundstimmung des Bühnenbiotops in den letzten Jahren ruppiger, rauer geworden ist. In diesem Theater pflegt man ein Lebensgefühl des Dazwischen- und Darüberstehens: Die Welt ist eine Zumutung, und wir sind es auch. Alles Scheiße, aber hier drin lässt es sich aushalten. Es hat etwas von ewiger Jugend oder Frühverrentung, irgendwo dazwischen.
Chris Dercon hat stark verhandelt: fünf Millionen Euro mehr
Viele empfinden es als Sakrileg, dass Castorf in zwei Jahren aufhören muss, und reagieren mit Verbitterung. Die handelnden Politiker haben diese Beharrungskräfte arg unterschätzt. Was nichts daran ändert, dass Dercon eine Chance bekommen soll. Und dass es in der Stadt auch viele Menschen gibt, die sich auf etwas Neues freuen und Dercon einiges zutrauen. Er hat stark verhandelt. Laut Haushaltsentwurf bekommt die Volksbühne in den nächsten Jahren rund fünf Millionen Euro mehr, wenn man die Etatsteigerungen und die Mittel für die Vorbereitung der neuen Intendanz zusammenrechnet.
Der jetzt 64-jährige Castorf wiederum hat alle Möglichkeiten eines starken Abgangs. Das ist nicht jedem vergönnt. Peter Stein seinerzeit schied von seiner Schaubühne im Zorn, hinterließ Trümmer und mehr Frust und Wut als Trauer. Wenn jedes große Ensemble, jedes bedeutende Theater seine Zeit hat, dann schlägt die Volksbühne alle. Die Zeit der alten Schaubühne, die damals die Menschen begeistert und gebildet hat – waren es zehn Jahre, von 1970 bis 1980? Mehr sicher nicht. Eine ganze Generation wurde von Stein und Grüber und ihren Schauspielern geprägt: Jutta Lampe, Edith Clever, Otto Sander, Bruno Ganz.
Selbst wenn man Leerlaufphasen und Ermüdungsjahre abzieht: Die Volksbühne prägt schon viel länger als die alte Schaubühne, strahlt international aus, hat Epigonen noch und noch. Die Schauspieler dieser Ära heißen Sophie Rois, Kathrin Angerer, Henry Hübchen, Herbert Fritsch, Martin Wuttke, Milan Peschel. Es gibt keinen in der Stadt, der Castorfs Einmaligkeit bezweifelt oder die Besonderheiten der Volksbühne ignoriert. Die Frage bleibt, wie damit umgehen in der Zukunft?
Ein Ende der Ära Castorf - das war nicht vorgesehen
Das Komplizierte an der Volksbühnen-Lage ist, dass sie immer schon die Auflösung des Schauspiels, den Diskurs der Performer und elektronischen Bilder vorangetrieben hat. Während Claus Peymann am BE das Inszenieren dramatischer Texte als Grunddisziplin verteidigt und sein Nachfolger das auch nicht alles umstoßen wird, probierte die Volksbühne stets den Aufstand anderer Medien gegen den vorgeschriebenen Text. Man hätte es ahnen können, dass eines Tages jemand den Ball aufnimmt und die Sache weitertreibt in Richtung Dauer-Biennale mit Kunst, Tanz, Film, Theater. Volksbühne ist seit hundert Jahren: Spektakel.
Es ist auch das Erbe von Matthias Lilienthal, des langjährigen Chefdramaturgen der Volksbühne, der nachher das Hebbel am Ufer erfand und jetzt das Experiment im größeren Stil an den Münchner Kammerspielen wieder aufnimmt. Er spielte bei der Dercon-Berufung eine Rolle und wird als Volksbühnenfeind attackiert. Wie soll man sich anständig trennen, wenn man so viel Lebenszeit, so viel Theaterzeit miteinander verbracht hat? Der Abschied wird verdammt schwer – weil er nie vorgesehen war. An der Volksbühne sind große Schauspieler im Krach gegangen, nur um groß wiederzukommen, und sei es als Regisseur.
Die erste und wichtigste Lektion hier lautete: den Ideologien misstrauen. Selbst Heiner Müller haben sie hier nur in Verbindung mit dem ollen Schwank „Pension Schöller“ gespielt. Wenn man sich die Welt und das Theater derart genial zurechtlegt und mit allem spielt, was andere Tabu oder Glauben oder Klassik oder DDR oder Kapitalismus nennen, dann hält man sich am Ende doch auch irgendwo fest: an sich selbst. Das ist die Volksbühne als Schutzraum. Volksbühne heißt erweiterte Familie. Nur dass es eben auch ein öffentlich finanziertes Theater ist mit Künstlerverträgen, Laufzeiten und Zuschauerzahlen.
Die Volksbühne: wild und frei
Der Laden war kaputt, als Castorf ihn 1992 übernahm. Jetzt ist er so sehr mit seinem Namen verbunden, dass er ihn gar nicht abgeben kann, im Grunde. Bei Klaus Wowereit war es ähnlich. Als er Regierender Bürgermeister wurde, kam erst die harte Sparpolitik und dann die gute Laune. Jetzt boomt Berlin wie nie. Zum Volksbühnen-Gefühl derer, die lieber alles beim Alten lassen, gehört auch die Ansicht, die Volksbühne sei die letzte Bastion gegen die Gentrifizierung.
Sie war natürlich auch ein Vortrupp davon. Nur hat es eben lange gedauert, bis die Investoren und Touristen in so großer Zahl in die Stadt kamen. Ab sofort dauert nichts mehr so lang. Die Volksbühne war und ist das West-Berlin des Ostens. Wild und frei. Das heißt aber auch: Sie kommt wieder. Sie verschwindet nicht. Sie steckt sowieso überall, in den Biografien, in anderen Bühnen, in den Köpfen.
Dass Frank Castorf, Herbert Fritsch, René Pollesch nicht in Berlin inszenieren, ist nicht vorstellbar. Jetzt und auch in fünf Jahren nicht. Sie setzen die Maßstäbe. Egal, wer wo in der Intendanz sitzt. Denn am Ende machen nicht die Politiker und Kulturdenker, sondern die Künstler das Theater dieser Stadt, die Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner. Das weiß auch Chris Dercon.